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Ausgabe:

1993

Spalte:

829-830

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Plaskow, Judith

Titel/Untertitel:

Und wieder stehen wir am Sinai 1993

Rezensent:

Weippert, Helga

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Seite 1

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829

Theologische Literaturzeitung I 18. Jahrgang 1993 Nr. 10

830

Plaskow, Judith: Und wieder stehen wir am Sinai. Eine jüdischfeministische
Theologie. Aus dem Engl, von V. Merz. Lu-zern:
Ed. Exodus 1992. 318 S. 8«. Kart. DM 45,80. ISBN 3-905575-
67-1.

1985 veröffentlichte Chava Weissler ihr Gedicht über Mirjam
mit dem Titel "Standing at Sinai" (Journal of Feminist Studies
in Religion 1,91 f). Das hier zu besprechende Buch ist die Übersetzung
eines zuerst 1990 in Amerika erschienenen Werks, dem
die Vfn. sicher im Anschluß an dieses Gedicht den Titel "Standing
again at Sinai" gab, um so ein doppeltes Programm auszudrücken
. Zum einen besteht sie darauf, daß am Bundschluß am
Sinai, trotz Ex 19,15 (51), auch die damaligen Frauen beteiligt
waren. Zum andern fordert sie, daß die heutigen Jüdinnen die
„Gottes-Erfahrungen" jener Frauen wiederfinden müssen, um
„mehr von der Ur-Tora, von der göttlichen Fülle" wiedererlangen
zu können (61). Dabei müsse sich „das Judentum verändern
"; denn, so lautet die erklärte Absicht der Vfn., es sei „eine
neue jüdische Situation zu schaffen", um „ein feministisches
Judentum Wirklichkeit werden zu lassen" (15).

Nach der Einleitung (11-24) entfaltet die Vfn. in sechs Kapiteln
, wie dieses Programm zu begründen und in die Tat umzusetzen
sei. Nach „Grundlegendem" (25-49), Ausführungen über
die Tora (51-103), Israel (105-152), Gott (153-203) und einem
Entwurf „zu einer neuen Theologie der Sexualität" (205-247)
gelangt das Buch im Schlußkapitel zum Thema „Feministisches
Judentum und die Heilung der Welt" (249-278).

Das Judentum wird als „zutiefst patriarchale Tradition" (15), als
„männliche Religion" (19) vorgestellt, deren Quellen und Überlieferungen
, da von Männern gestaltet (25), von Tora, Israel und Gott
nur aus „männlicher Sicht" sprechen (27. 31 u.ö.). Demgegenüber
sei mit Hilfe einer „Hermeneutik des Erinnern«" (38-40, der
Begriff ist von E. Schüssler-Fiorenza übernommen) das Schweigen
aufzubrechen, das biblische Texte den Frauen auferlegten
(45). Gelange das „Erinnern" nicht zum Ziel, müsse die „Geschichte
der Frauen" (79) und damit auch „die verborgene Hälfte
der Tora" (85) notfalls erfunden werden (84f.). Redend und handelnd
geschehe dasselbe, wenn Jüdinnen in der Sabbatliturgie bekennen
: „Auch wir hatten einen Bund; auch wir waren dort" (87).

Weil Frauen am Sinai dabei waren und heute zur jüdischen
Gemeinde gehören, spricht die Vfn. ihnen das Recht zu, an der
Unigestaltung der Tora mitzuwirken. Geschah dies durch das
jüdische Religionsgesetz (Halacha) reglementierend und in Einzelheiten
die Frauen diskriminierend (901.), so müsse eine neue,
weibliche Interessen wahrende Halacha von der Gleichberechtigung
von Mann und Frau ausgehen (101), um einer menschlichen
, nicht hierarchischen Ordnung zu dienen (100), in der
nomistische Prinzipien zugunsten menschlicher Beziehungen
zurückgedrängt sein sollten (97-100).

Zwischen die Behandlung von Tora und Gott stellt die Vfn. ihr
Kapitel über Israel, weil in ihm das jüdische Gedächtnis und die
Erfahrung des Göttlichen stattfinden (106). Vom Bundschluß am
Sinai an stünden Juden und Jüdinnen nicht mehr einzeln, sondern
als Gemeinschaft vor Gott (110), und trotz Gen 17,10 gehörten
dazu auch die Frauen (112-118). Konsequent lasse sich Gemeinschaft
nur verwirklichen, wenn sie nicht in ein „System von Trennungen
" eingebettet sei (128), und deshalb seien die Erwählung
Israels und die damit cinhergehenden „hierarchischen Differenzierungen
" (132) aufzugeben (131-139): „Erwähltsein ist nur
nötig, um das jüdische Leben aus einer Sicht zu rechtfertigen, die
den gemeinschaftlichen Charakter der menschlichen Existenz
nicht ernstnimmt" (135). „Nicht im Erwähltsein..., sondern im
Verschiedensein...finden wir den Gott Israels, den Gott jedes einzelnen
Volkes und aller Völker" (139). Diesen Maßstab legt die
Vfn. auch an den heutigen Staat Israel an und gelangt zu dem
Ergebnis, daß er weder nach innen (Frauen, orientalische Juden)
noch nach außen (Palästinenser) Gerechtigkeit, Frieden und Dialog
walten lasse (139-152), sondern ermögliche, daß „der Glaube
an das Erwähltsein mit der schlimmsten Staatsvergötterung und
dem Willen, jede Form von Mißbrauch des nicht-jüdischen Anderen
zu rechtfertigen" einhergehen könne (151). Gefordert wird
statt dessen: „Ein Israel, das Vielfalt schätzt" (152).

Daß Gott männlich geschildert (155-160) und mit „Bildern der
Dominanz" (etwa Krieger, König, 161, 202) als „außerhalb und
über der Welt und dieser entgegenstehend" beschrieben werde
(163), lehnt die Vfn. ab, da solche „Symbole...jene Übel hervorbringen
und rechtfertigen helfen, aus denen uns Gott, wie wir hoffen
, erretten wird" (165). Derartige hierarchische Konzeptionen
seien nicht gottgewollt, sondern „menschliche Schöpfungen"
(202). Die Frauen, die „mit dem Bewußtsein von heute, erneut am
Sinai" stehen, (169) müßten deshalb eine neue Sprache und neue
Bilder finden, die der Gegenwart angemessen sind. Diese Absicht
bestimmt den Überblick über „jüdisches feministisches Reden
von Gott und feministische Spiritualität" (169-176), die beide zu
einem Gottesverständnis führen (176-179), demzufolge Gott „ein
Seiendes" ist, „die Wirklichkeit an der .wir teilhaben'" (177). die
„Quelle des Seins" (179). Transzendentalen Vorstellungen und
Bildern ist damit eine Absage erteilt, pantheistischen (1880.
poly- und synkretistischen Zügen eine Tür geöffnet. Die dabei
auch eingesetzte „Sinnlichkeit" und „weibliche Bildwelt" (182)
führe nicht zur Verehrung der Göttin, sondern zu „einem inklusi-
ven Monotheismus" (188), bei dem Gott nicht nur „die Eigenschaften
der männlichen Gottheiten Kanaans umfaßt" (186), sondern
auch die der weiblichen. Wolle man den Bundesgott als
„Partner/in" erfassen, böten sich Begriffe wie „Liebende/r,
Gefährt/in, Mitschöpfer/in" an (198); Gottes Liebe und Hinwendung
zur Welt komme zum Ausdruck, wenn man ihn als Urgrund
des Seins und Ort anspreche, an dem er sich finden läßt (199).

Aus diesen Überlegungen leitet sich die Forderung der „radikale
^) Umwandlung des institutionellen, rechtlichen Rahmens, in
dem sexuelle Beziehungen stattfinden sollen", ab (236); denn
Sexualität lasse sich in einer „Theologie der Gemeinschaft" (9)
nicht mehr „im Sinne von patriarchalem Besitzen und Kontrollieren
" einordnen (234). Entsprechend der Intention von Gesetz und
Propheten, Gerechtigkeit im Glauben wie im Leben zu verwirklichen
(275), endet das Buch mit einem Entwurf neuer Gemeinschaftsformen
, die „für die Gestaltung eines feministischen
Judentums" grundlegend seien (273), da sie „eine neue religiöse
und soziale Ordnung" hervorbrächten (278). Die „Heilung der
Welt" sei damit zwar nicht erreicht; doch sei man ihr ein Stück
näher gerückt, und „ein gerechtes Judentum" könne dabei „seinen
Beitrag leisten und autblühen" (264).

Es kann hier nicht darum gehen, in die Einzeldiskussion einzutreten
, so reizvoll dies auch wäre. Grundsätzlich ist aber anzumerken
, daß die auf eine revolutionäre Veränderung des Judentums
ausgerichteten Thesen der Vfn. sich darin mit denen konservativer
Entwürfe treffen, daß der Sprung über den breiten garstigen
Graben der Zeit hinweg für möglich gehalten wird. Geschichte
wird aufgehoben, wenn man meint, „mit dem Bewußtsein von
heute, erneut am Sinai" stehen zu können (169). Man macht dann
nicht nur die Vergangenheit erinnernd zur Gegenwart, sondern
legt auch Gegenwartsinteressen als Maßstab an die Vergangenheit
an. Zweifellos ist es mühsamer, auf historisch-kritischem
Weg die überkommenen Texte nicht abzulehnen, sondern als
Dokumente längst vergangener Zeiten zu akzeptieren und sich
erst dann auf den langen hermeneutischen Marsch in die Gegenwart
zu begeben; doch letztendlich dürfte dieses Verfahren den
Damaligen wie uns Heutigen mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen
als eine kühne Verknüpfung von Einst und Jetzt. Eine „Theologie
der Gemeinschaft" (9), wie die Vfn. sie entwirft, dürfte
dadurch keinen Schaden erleiden, denn sie kann auch über den
Absland der Zeit hinweg bestehen.

Heidelberg Helga Weipperl