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Ausgabe:

1993

Spalte:

815-818

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Kirchen im Kontext unterschiedlicher Kulturen 1993

Rezensent:

Gerlitz, Peter

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815

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 10

816

[Men, Aleksandr:] Kirchen im Kontext unterschiedlicher

Kulturen. Auf dem Weg ins dritte Jahrtausend. Hg. von K.
Ch. Felmy, G. Kretschmar, F. v. Lilienfeld, T. Rendtorff, u.
C.-J. Roepke. Red. W. Heller. Aleksandr Men in Memoriam
(1935-1990). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991.
1031 S. m. 3 Abb., 1 Porträt gr.8o. Kart. DM 340,-. ISBN 3-
525-85936-8.

Dieser umfangreiche Tagungsband, Ergebnis eines „internationalen
wissenschaftlich-kirchlichen Symposions", das die
Evangelische Akademie Tutzing im Mai 1990 veranstaltete, ist
dem hochverdienten russischen Theologen und Seelsorger Erz-
priester Aleksandr Men gewidmet, der am 9. September 1990 in
Moskau ermordet wurde. Fairy von Lilienfeld hat den Märtyrer
und sein Werk (darunter zahlreiche Arbeiten zur Seelsorge, zur
Systematischen Theologie und Religionswissenschaft) eingehend
(17-37) gewürdigt und sein Leben als „den echten persönlichen
, priesterlichen Weg des Christgläubigen in der modernen
, sich als gottfern oder gottlos verstehenden Welt" bezeichnet
(33).

Die Rezension bereitet eine Reihe von Schwierigkeiten, die
es weniger mit dem Umfang zu tun haben, als vielmehr mit der
verwirrenden Zahl von Themen, Thesen, Berichten, die - auch
wenn sie den gleichen Gegenstand behandeln - auf Grund der
unterschiedlichen Herkunft der Autoren höchst unterschiedliche
Ergebnisse zutage fördern, zumal wenn es um russisch-orthodoxe
und protestantische Standpunkte geht. Das mag beabsichtigt
sein und macht auch den Reiz eines solchen Tagungsbandes
aus, ist aber andererseits dem Gesamteindruck abträglich. Auch
die Hgg. verhehlen das nicht, wenn sie - als größten gemeinsamen
Nenner - sozusagen als Skopus der Tagung „das Ringen
um einen ethischen Konsens und ein gemeinsam verantwortliches
Handeln, das dem Überleben der Menschheit dient" (C.-J.
Roepke, Einführung, 5) nennen. Theologische Fragen sollen
aber dort zur Sprache kommen, wo es um „ihre Implikationen
für das spirituelle Leben der Kirche" geht (Einführung, 6), und
das ist - wie man unschwer erkennen kann - in den orthodoxen
Kirchen eher der Fall als im Protestantismus.

Das Buch ist in drei Sektionen gegliedert, die an sieben Plenumsvorträge
(41-150) anschließen.

Die erste Sektion befaßt sich mit dem Phänomen der Aufklärung
(153-397), das verständlicherweise in den drei großen
„Konfessionsfamilien" (6) eine unterschiedliche Beurteilung
erfahren muß. So hat die Russisch-Orthodoxe Kirche z.B. in
dieser Frage einen großen Nachholbedarf und vertritt noch
immer eine voraufklärerische bis anti-aufklärerische Position,
weil sie sowohl die Reformen Peters des Großen wie den Marxismus
-Leninismus als Überfremdung bzw. Abfall von der
Orthodoxie empfindet. T. Rendtorff (60): Während die protestantischen
Kirchen „eine besonders exponierte Geschichte der
Auseinandersetzung mit Aufklärung in der Theologie vorzuweisen
" haben, hat die Theologie „im Anglikanismus und in der
Orthodoxie einen anderen... Stellenwert", der durch die Liturgie
gekennzeichnet ist. Die Vertreter der Russischen und der Griechischen
Orthodoxie (B. V. Rausenbach, 162: „der Religion
liegt das außer-logische Wissen zugrunde"; Ch. Yannaras, 233:
„der Empirismus der orthodoxen Kirche" ist „ein Erfahren von
Beziehung"), aber auch der protestantischen „Kirchen im Sozialismus
" (187: Kurt Nowak spricht von einer „Kirche des
Kults", einer „Institution zur religiösen Betreuung der Gläubigen
" während der DDR-Zeit) scheinen das zu bestätigen. Im
übrigen wird die unerledigte Frage nach religiöser Aufklärung
an den Stellen virulent, wo es um Emanzipation geht, z.B. um
die Ordination von Frauen in den Orthodoxen Kirchen, worauf
Elisabeth Behr-Sigel hinweist und beklagt, daß es dort noch
immer keine organisierte Bewegung hinsichtlich dieser Frage
gäbe (278).

Nun wird man aber von einer grundsätzlichen „Aufkärungs-
feindlichkeit" in den Orthodoxen Kirchen nicht sprechen können
, zumal diese sich in vorbildlicher Weise um das ökumenische
Gespräch bemühen und für das 21. Jh. einen „universalen
ethischen Katechismus" (Kirill v. Smolensk spricht von einer
„Ökologie des menschlichen Gewissens", 308) fordern, der sich
ohne den Geist der Aufklärung nicht formulieren ließe. Hier
scheint auch der interkulturelle Kulminationspunkt zu liegen
(G. Voll, Die religiösen Wurzeln Europas, 355). Deshalb ist die
Anfrage K. Tanners nach einer „ökumenischen Einheitsethik"
(377ff) durchaus legitim.

Die zweite Sektion (399-699) befaßt sich mit den Problemen
der Einheit der Kirche und der Vielzahl der Nationen und widmet
sich Phänomenen wie „Kirche und Nation" (A. M. Ritter:
447-452; N. Sivarov: 453-463), Autokephalie und Lokalkirchen
(V. Cypin: 399-408; F. E. Sysyn: 625-640; sowie schon im Plenum
der katholische Theologe Walter H. Principe, The Unity of
the Church and the Multitude of Nations: 69-90, und der Metropolit
von Myra Chrysostomos Konstantinidis, Die Universalität
der Kirche und die Vielzahl der Ortskirchen: 105-117), sowie
Inkulturation bzw. Akkulturation. Es sind die Orthodoxen, die
ihre „lokalen Formen dem nationalen Organismus" eher anpassen
als die Kirchen des protestantischen Typs (vgl. V. Ion Ja,
413). F. v. Lilienfeld fordert angesichts der unübersehbaren
Nationalitätenkonflikte die Kirchen zur Bereitschaft zur „Multi-
kulturalität" und damit zum „laos" als dem Leib Christi auf
(496, 497f), der eine Mittlerfunktion in den ethnischen Auseinandersetzungen
und Absolutheitsansprüchen unserer Zeit übernehmen
muß, eine Forderung, die auch von orthodoxer Seite
geteilt wird (I. Economcev, Orthodoxie et „ethnos" dans le con-
texte dans l'histoire russe: 535-549). Was die „Anpassungsmechanismen
" betrifft, so sollten heute keine Versuche mehr
unternommen werden, die Wiederherstellung des Moskauer
Patriarchats im Jahre 1918 lediglich als einen „ekklesiolo-
gisch/theologischen" usw. Akt und nicht auch als einen politischen
Schachzug zu bezeichnen (so noch G. Schulz, Begann für
die Russische Orthodoxe Kirche das dritte Jahrtausend 1917?
572, 576).

Als dringliche Inkulturationsprobleme müssen heute z.B.
Bibelübersetzung und kritische Exegese in der Russisch-Orthodoxen
Kirche betrachtet werden, weil diese - im Grunde erst
seit Beginn des 19. Jh.s aktuell - immer noch unbewältigt sind
(I. Ivliev, Die Exegese des Neuen Testaments in der Russischen
Orthodoxen Kirche, 590; vgl. I. Pavlov, Das Problem der sakralen
Sprache: 761-772). Sehr viel besser, nein, geradezu ideal sei
die Inkulturation des griechischen Geistes im frühen Christentum
gelungen, meint Theodor Nikolaou: „Die Griechen waren
die ersten und einzigen, die den Sinn des Menschen haben entdecken
können" (!) (Die griechisch-christliche Kultur und die
Einheit der Kirche, 649). Gegen v. Harnack und Droysen
behauptet N. allen Ernstes: „Der Hellenismus ist..." keine „kulturelle
Verschmelzung des Griechischen mit orientalischen Elementen
...", sondern bedeutet vielmehr („nur"?) eine multinationale
und multikulturelle Entwicklung..." (650). Auch für die
Rom.-Katholische Kirche scheint nach Peter Neuner die Inkulturation
kein Problem mehr zu sein; denn er behauptet, daß an
die Stelle des „traditionellen römischen Zentralismus" das „ag-
giornamento der Kirche" und der „Dialog der Kulturen" getreten
sei und seit J. Ratzinger „Katholischsein in Querverbindungen
stehen" (gemeint ist das Verhältnis der Ortskirchen untereinander
) bedeute (Das Zweite Vatikanische Konzil und das
Problem der Inkulturation, 668, 667, 664).

Beispiel für eine bisher mißlungene Eingemeindung von
Christen dürften die rußlanddeutschen Lutheraner sein, die jetzt
nach Deutschland zurückkehren (677-680).

Die dritte Sektion (701-961) ist den „Medien" der Verkündigung
gewidmet: dem Medium der Kultur und Kunst, der Spra-