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Ausgabe:

1993

Spalte:

803

Autor/Hrsg.:

Müller, Norbert

Titel/Untertitel:

- 812 Religion im Horizont zeitgenössischer Theologie 1993

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803

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 10

804

Norbert Müller
Religion im Horizont zeitgenössischer Theologie

Für einen theologiegeschichtlichen Rückblick könnte sich
das 20. Jh. als Periode einer differenzierten und intensiven Auseinandersetzung
mit dem Religionsbegriff darstellen. Als
gleichsam „höhere Potenz" der Religion hatte Schleiermacher
das Christentum den Gebildeten am Eingang des 19. Jh.s empfohlen
.1 Ernst Troeltsch rechtfertigt zu Beginn des 20., in vollem
Besitz und souveräner Handhabung des Instrumentariums
historischer Kritik, die Anwendung des philosophischen Begriffs
der „absoluten Religion" auf das Christentum - wenn
auch mit allen nun notwendig gewordenen relativierenden Einschränkungen
-, indem er formuliert: „So muß das Christentum
nicht bloß als der Höhepunkt, sondern auch als der Konvergenzpunkt
aller erkennbaren Entwicklungsrichtungen der Religion
gelten."2 Und Adolf von Harnack, dessen Vorlesungen
über das „Wesen des Christentums" die doch wohl repräsentativste
Selbstdarstellung der evangelischen Theologie zu Beginn
dieses Jh.s genannt werden dürfen, erweitert den Begriff „Christentum
" unbedenklich in die Formulierung „christliche Religion
".-^ Aber nicht diese, wo nicht problem- und mühe-, so doch
letztlich bruchlose Einordnung des Christentums in die Religionsgeschichte
, oder, in anderer Richtung gesehen, die Zuordnung
der Religionsgeschichte zum theologisch-historischen
Selbstverständnis des Christentums sollte das theologische Profil
dieses Jh.s bestimmen, sondern die radikale Frage nach der
Legitimität solcher Zusammenschau. Bereits 1926 hat Karl
Barth in einer Feuerbachvorlesung nachdenklich gefragt, ob
Feuerbachs kritische Anfrage an Religion und Christentum, „ob
die Theologen der Neuzeit eigentlich bewußt die Apotheose des
Menschen im Schilde führen"4, von Harnack und seiner Generation
wirklich aufgenommen worden sei. Und im zweiten Teilband
seiner Kirchlichen Dogmatik hat Barth dann zwar, unter
Vorbehalt, den Gedanken einer „wahren Religion" aufgenommen
, aber nur, nachdem zunächst „Religion als Unglaube"
theologisch grundsätzlich problematisiert war: „Wahre Religion
" kann dann nur als Oxymoron verstanden werden, analog zu
„gerechtfertigter Sünder".5 Sollte der christlichen Theologie
noch ein Rest von Unbefangenheit im Umgang mit dem Wort
„Religion" verblieben sein, so wurde er ihr endgültig durch die
Veröffentlichung von Bonhoeffers Gefängnisbriefen genommen
. Der Gedanke eines „religionslosen Christentums" in einer
„religionslosen Welt" ist einer der unverwechselbarsten Impulse
für theologische Selbstbesinnung in unserem Jh. geworden.6
Fast ein halbes Jh. liegt freilich nun zwischen diesen Überlegungen
Bonhoeffers und unseren Tagen. Daß die christliche
Theologie mit dem Religionsbegriff nicht mehr unkritischdirekt
umgehen kann, gehört inzwischen zum Standard theologischen
Selbstbewußtseins; ebenso aber auch die Einsicht, daß
es kaum möglich ist, ihn - auch in Anwendung auf das Chri-

* Ernst-Heinz Amberg nachträglich zum 65. Geburtstag in herzlicher Verbundenheit
gewidmet.

1 F. Schleiermacher: Über die Religion, Berlin 1799, 294.

2 E. Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums (1902). Neuausgabe
München und Hamburg 1969. 90.

3 A. v. Harnack: Das Wesen des Christentums (1900), Neuausgabe Berlin
1950, 6 u.ö.

4 K. Barth: Ludwig Feuerbach, in: Die Theologie und die Kirche, München
1928,229.

5 K. Barth: KD 1,2 (1938), 324ff., 356ff.

6 D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, Neuausgabc 1970, 306 (Aufzeichnung
vom 30.4.1944). - Repräsentative Diskussionsbeiträge und
Bibliographie zum Thema in: P. H. A. Neumann [Hg.]: „Religionsloses
Christentum" und „Nicht-religiöse Interpretation" bei Dietrich Bonhoeffer,
Darmstadt 1990 (=WdF CCCIV).

stentum selbst - völlig zu umgehen. Weder Rudolf Bultmann
(Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, 1949)
noch Gerhard Rosenkranz (Der christliche Glaube angesichts
der Wcltreligionen, 1967) nennen das Christentum ausdrücklich
„eine Religion". Aber beide können es nicht vermeiden, indem
sie das Christentum „den anderen Religionen" gegenüberstellen
, es mit diesen unter dem gemeinsamen Begriff zusammenzufassen
. Fügt man sich aber dieser Notwendigkeit, die sich aus
den Gegebenheiten sowohl der sprachlichen Tradition als auch
der historischen Entwicklungen ergibt, so muß es auch weiterhin
als legitim betrachtet werden, nach dem systematischen
Gewicht des damit unvermeidlich aufgedeckten Zusammenhanges
zu fragen. Auch das ist in den Jahren zwischen der Jahrhundertmitte
und heute immer wieder geschehen; sogar der Gedanke
der „Absolutheit des Christentums" wurde erneut zur Diskussion
gestellt.7 Inzwischen hat sich freilich noch ein ganz anderer
, unmittelbar drängender Beweggrund für die christliche
Theologie ergeben, sich erneut auf das Religionsproblem einzulassen
. Ein Dialog der Weltreligionen über die gemeinsame
Beantwortung der die Menschheit bedrängenden und bedrohenden
Fragen ist im letzten Jahrzehnt nicht nur immer nachdrücklicher
gefordert worden, sondern hat in Ansätzen bereits begonnen
. Die christliche Theologie kann und will sich ihm nicht entziehen
; sie sollte aber auch die „Anstrengung des Begriffs"
nicht scheuen, die es erfordert, ihm in einem wesentlicheren
Sinn als dem eines nur pragmatischen Mitluns gerecht zu werden
.

Es soll aber hier nicht unternommen werden, die Aufgabe
einer systematischen Begriffsklärung auch nur in Angriff zu
nehmen. Die folgenden Hinweise auf einige für den Themenbereich
relevante Publikationen möchten nur anzudeuten versuchen
, innerhalb welchen Horizonts sich eine solche Klärung
etwa zu vollziehen hätte.

I

Kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs hat Heinrich Scholz
an einer eher verborgenen Stelle, nämlich in einer kleinen
Schrift über den Dichter Rainer Maria Rilke, die frömmigkeitsgeschichtliche
Situation zu Anfang unseres Jahrhunderts in
einer, wie mir scheint, für damals und für heute gültigen Diagnose
sehr prägnant durch die beiden Formulierungen diagnostiziert
: „Ungenügen am Christentum" und „Sehnsucht nach
Religion".8 Hier ist nicht nur das Auseinandertreten von Christentum
und Religion im zeitgenössischen Bewußtsein bereits
konstatiert, sodaß das Abrücken vom Religionsbegriff, wie es
bei Barth und Bonhoeffer in Erscheinung tritt, fast nur noch als
ein Nachvollzug dieser Bewegung von der anderen Seite her
erscheinen könnte. Es wird vielmehr indirekt auch die Frage gestellt
, ob die christliche Theologie ihrer Aufgabe gerecht wird,
wenn sie sich mit dieser neuen Distanz abfindet oder sogar aus
ihr Gewinn für die Konsolidierung eines neuen, gewissermaßen
gereinigten christlichen Selbstbewußtseins zieht - jenseits aller
Trübungen durch unkontrollierte religiöse Elemente. Stellen
wir uns dieser Frage heute, so können wir uns in der Tat der
Erkenntnis nicht entziehen, daß das Schreckbild eines „richtigen
", eines theologisch „sauberen", aber auch weithin sterilen

7 W. Philipp: Die Absolutheit des Christentums und die Summe der
Anthropologie, Heidelberg 1959; U. Mann: Das Christentum als absolute
Religion, Darmstadt 1970.

8 H. Scholz: Rainer Maria Rilke. Ein Beitrag zur Erkenntnis und Würdigung
des dichterischen Pantheismus der Gegenwart. Halle 1914, 3.