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Ausgabe:

1993

Spalte:

763-764

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ineichen, Hans

Titel/Untertitel:

Philosophische Hermeneutik 1993

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Seite 1

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763

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 9

764

einer Rekonstruktion der Tradition arbeiten, denn die Anwendbarkeit
eines theologischen Paradigmas auf die Tradition muß
sich zeigen lassen können" (185).

„Im wissenschaftlichen Kontext (müssen) die Aussagen der
Theologie als Hypothesen aufgefaßt werden... Diese Revidier-
barkeit theologischer Aussagen meint allerdings nicht, daß sie
immer auch als hypothetisch erfahren werden. Es bleibt also
Raum für des Glaubens ,feste Zuversicht...' (Hebr 11,1)" (190).
Auch sind wir „berechtigt, wenn nicht sogar genötigt, ungeachtet
skeptischerer Positionen in der Sprachphilosophie weiterhin von
der möglichen objektiven Wahrheit eines gegebenen Glaubenssystems
zu sprechen" (207). „Denn ex hypothesi ist nun die
Erklärung, die sich am meisten den idealen Eigenschaften einer
wissenschaftlichen Erklärung annähert, auch die Erklärung,
deren Wahrheit am wahrscheinlichsten ist" (208f). „Ich meine,
daß eine mit Hilfe des Kohärenzgedankens entwickelte Theorie
von Wahrheit und Sinn einige Fortschritte erzielt, um gegen die
gegenwärtigen skeptischen Probleme bestehen zu können" (209).

Es ist die Stärke dieses Buches, daß hier ein Weg gezeigt
wird, der „letztlich religiöse Überzeugungen und Praktiken
nicht destruiert, sondern sowohl für die Disziplin der Theologie
als auch für die Bemühungen des einzelnen Gläubigen, seiner
Welt einen Sinn abzugewinnen, eine konstruktive Möglichkeit
an die Hand gibt".

Neuburg Christoph Pentz

Ineichen, Hans: Philosophische Hermeneutik. Freiburg-München
: Alber 1991. 293 S. 8° = Handbuch Philosophie, geb.
DM 46,-. ISBN 3-495-4792-7.

Die philosophische Hermeneutik hat mit Hans-Georg Gada-
mers „Wahrheit und Methode" (1960) und zahlreichen diesem
Buch folgenden Schriften des Heidelberger Philosophen einen
Höhepunkt erreicht, ist aber auch in eine Sackgasse geraten.
Das von Gadamer für den hermeneutischen Akt in Anspruch
genommene Ganze der menschlichen Erfahrung hat zu einer
Vernachlässigung der Sprachwissenschaften und der Logik der
Sprachanalyse geführt. Ein von Ineichen leider nicht erwähnter
bissig-geistreicher Kritiker, dem die ganze Gadamersche Richtung
schon längst nicht mehr paßte, hat von einem „Einheitsdelirium
der Hermeneutik des Geistes" gesprochen. Gadamers
Ansatz stellte - nolens volens - übersichtliche Einheitlichkeit
her, wo ansonsten schiere Unübersichtlichkeit herrscht. „Wer
Horizonte verschmelzt, läßt eben an der Stelle vieler Perspektiven
eine einzige übrig" (Jochen Hörisch: Die Wut des Verste-
hens. Frankfurt/M. 1988, 67, 71 f.). Auch Ineichens „Philosophische
Hermeneutik" kann als Zeugnis der Abkehr von Gadamer
gelesen werden: als Kehre gegen die ontologische Kehre in
der Hermeneutik.

Einer philosophischen Hermeneutik soll damit nicht der Abschied
gegeben werden. Der Vf. ist daran interessiert, den legitimen
Ort einer philosophischen Hermeneutik im Gefüge all
jener weiteren speziellen Hermeneutiken (theologische, juristische
, historische, literaturwissenschaftliche Hermeneutik) auszumachen
, die bei Gadamer im Namen der (Existenz-)Wahrheit
an den Rand zu treten hatten oder gar gänzlich unter den Tisch
fielen. Sein Buch besteht aus zwei Teilen: „A. Systematische
Darstellung einer philosophischen Hermeneutik" (21-115). „B.
Hermeneutische Positionen der Gegenwart und ihre historische
Entwicklung" (117-270). Im systematischen Teil bekennt er
sich zu einem Verständnis der Hermeneutik als Lehre vom Verstehen
und Auslegen von Texten, erweitert diese Basis aber
durch die Einbeziehung von „Sinngebilden" generell (Handlungen
, Kunstgegenstände). Auch spricht er von drei Ebenen des
Verstehens: des Verstehens von Texten, „von menschlichen

Werken und Handlungen überhaupt", und von der „Ebene des
Verstehens als ontologischer Bestimmung des Menschen
schlechthin" (22). Was der Vf. mit diesen Differenzierungen
genau meint, hat er m.E. allerdings weder an dieser noch an
weiteren Stellen seines Buches hinlänglich klarstellen können.
Ich habe dem systematischen Teil vor allem die Skepsis gegen
transzendentalphilosophische Begründungen (erst recht gegen
„Letztbegründungen") der Hermeneutik und gegen die Erschleichung
holistischer Wahrheitsbegriffe in den Geistes- und
Sozialwissenschaften entnehmen können. „Wir werden die
These vertreten, daß der mit dem Text vom Autor gemeinte
Sinn/Bedeutung die wichtigste Norm der Richtigkeit der Auslegung
bildet" (57). Soweit es um das Verstehen und die Auslegung
von Texten geht, bewegt sich der Vf. im Zurücklenken in
Hermeneutiktheorien, die vor der ontologischen Kehre der Disziplin
noch in Geltung standen, auf gleichsam sicherem, wenn
auch wenig sensationellem Boden. Ungleich weniger Auskünfte
erhält man zu den weiteren von ihm genannten Ebenen des
Verstehens (Handlungen, Kunstwerke bzw. Verstehen als „ontologische
Bestimmung des Menschen").

Im zweiten, dem historisch-deskriptiven Teil stellt der Vf. in
Abbreviaturen Hermentikkonzepte aus Vergangenheit und Gegenwart
vor: F. Ast, F. A. Wolf, F. Schleiermacher, A. Boeckh,
J. G. Droysen, W. Dilthey, H. Rickert, M. Heidegger, H.-G.
Gadamer, J. Habermas, P. Ricoeur, K. O. Apel, W. Dray. Zwar
versucht er, die Kurzskizzen in eine durch innere Bewegungsdynamik
gekennzeichnete Problemlinie einzuordnen und auf
diese Weise der bloß positivistischen Darbietung zu entrinnen.
Aber augenscheinlich hat ihn das Genus des „Handbuchs Philosophie
" dabei in einer Zwitterstellung verharren lassen. Der am
historischen Material orientierte Problemdurchblick gelingt nur
halb, und auch die Informationen, sei es über „Schleiermachers
Hermeneutik" (121 ff.) oder über „P. Ricoeur und die Hermeneutik
" 228ff.) usf., bleiben unbefriedigend. Sie sind allzu
bruchstückhaft geraten und lassen an manchen Stellen nicht die
genaue Kenntnis des derzeit aktuellen Diskurses sichtbar werden
. Für die manchmal so entscheidenden Entwicklungsstufen
in der Hermeneutiktheorie eines Autors bleibt gleich gar kein
Raum. Vielleicht hat sich der Vf. selbst behindert, indem er die
Vorgaben des „Handbuchs Philosophie" gar zu eng auslegte:
Darstellung des gegenwärtigen Problemstandes einer Disziplin
„in klarer und verständlicher Diktion". Die angestrebte clarte
schlägt des Öfteren in allzu große Einfachheit und damit in
Simplizität um. Im Literaturverzeichnis hat der Rez. eine Reihe
von Fehlern entdeckt. Mitunter sind sowohl im Inhaltsverzeichnis
als auch im Literaturverzeichnis prominente Namen verschrieben
worden (10 Boeckh, 283 Koselleck). Hoffen wir, daß
dies auf Tücken des PC und nicht auf andere Ursachen zurückzuführen
ist. Die Bibliographie ist, abgesehen von ihren
schwerlich normgerechten Angaben, nicht immer up to date. Ist
es z.B. sinnvoll, Droysens „Historik" nicht nach der Edition von
P. Leyh anzugeben? Zu loben bleibt das Plädoyer des Vi s
zugunsten einer philologisch und sprachanalytisch fundierten
Hermeneutik. „Verstehen und Auslegen von Sprache - so darf
man behaupten - ist ohne Wissenschaft fast blind" (275).

Leipzig Kurt Nowak

Mendelssohn, Moses: Rezensionsartikel in Briefen, die neueste
Literatur betreffend (1759-1765). Bearb. von E. J. Engel.
Stuttgart: Frommann 1991. LXXXIII, 606 S. 8» = Gesammelte
Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 5,1. Lw. DM 198,-. ISBN
3-7728-1010-1.

Die Vervollständigung einer wissenschaftlichen Gesamtausgabe
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