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Ausgabe:

1993

Spalte:

761-763

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Clayton, Philip

Titel/Untertitel:

Rationalität und Religion 1993

Rezensent:

Pentzlin, Christoph Valentin

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 9

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behutsamen Behörden-Gang. Villar teilt einmal (genüßlich?)
mit, einer seiner Gewährsleute habe bei einer Auseinandersetzung
im ökumenischen Rahmen die protestantische Seite nicht
nur als „Nicht-Kirche", sondern auch als eine Gruppe des „anarchistischen
Individualismus" gekennzeichnet. Man könnte geneigt
sein, dieses Etikett zurückzugeben, weil sich die innerkatholische
Debatte zwar bloß mit Komma, Strich, Apostroph, Gedankenstrich
und Punkt vollzieht, aber nicht weniger hart und
folgerichtig als unsere individualistisch geprägte. Der hier schon
mehrfach in seiner wegweisenden Funktion angesprochene Y.
Congar kennt für diese zweifellos unaufhörlich fortschreitende
Reformzeit vier Bedingungen: der Vorrang der Liebe (caridad),
die Geduld miteinander, die Rückkehr zum Prinzip der Tradition
, das Verharren in der Gemeinsamkeit mit allen. Wie es
scheint, liegt hier der Gegenton zu der dogmatischen Erwägung:
die Gemeinsamkeit mit „allen". Und das ist in der Praxis bislang
nicht erfüllt. Es läßt sich leichter eine einheitliche Linie z.B.
zwischen Anglikanern und Orthodoxen zur Liturgie finden, als
eine Kirchengemeinschaft herstellen. Hierauf ist jedermann vorbereitet
, wenn Namen wie Guardini oder Karl Rahner fallen.
Ebenso ist auf lutherischer Seite jedermann klar, daß die von
Karl Barth schon 1948 in Amsterdam vorgetragene und seither
oft wiederholte congregationalistische Sicht der »assemblee«
nicht ausreicht, um das zu beschreiben, was Christus gewollt
hat.

Wie schwierig, ja unmöglich es ist, die vierte Bedingung von
Congar zu erfüllen, das zeigte sich in den Unions-Gesprächen
nach 1918 mit den Anglikanern in Belgien. Gleiches trat zutage,
als die französichen Theologen mit der St.Sergius-Fakultät in
Paris verhandelten. Man kam über die Feststellung nicht hinaus,
daß ohne Annahme der päpstlichen Jurisdiktion jede christliche
Gemeinschaft nicht einmal den Stand der Partikularkirche erhalten
könne. Über den Status des „separada" kam man nicht hinaus
. Keine Gemeinschaft „mit allen?". Ja, aber mit Auswahl,
wird man seitens der Universalkirche sagen. Es ist für sie schon
schwierig, mit den eigenen Partikularkirchen fertig zu werden.
Und umgekehrt ist es eben das Gleiche. Dem Betrachter fällt es
auf, daß in fast 600 Seiten nur ein Mal - in einem belanglosen
Nebensatz - die „wandernde" Kirche erwähnt wurde. Aber eine
Sicht der Kirchen ohne Bezug auf die „letzten Dinge" ist, nicht
bloß fehlerhaft, sondern verurteilt zur Sterilität.

Bremen Walter Nagel

Philosophie, Religionsphilosophie

Clayton, Philip: Rationalität und Religion. Erklärung in Naturwissenschaft
und Theologie. Aus dem Amerik. von M. Laube,
mit einem Vorwort von W. Pannenberg. Paderborn-München-
Wien-Zürich: Schöningh 1992. XV, 256 S. gr.80. geb. DM
68,-. ISBN 3-506-71881-9.

Gerne zeige ich dies in der englischen Sprachwelt viel beachtete
Buch an. Geschieht es doch nicht oft, daß ein Philosoph seine
wissenschaftstheoretischen Ausführungen bis hin zur Religionswissenschaft
und Theologie auszieht. Ja mehr noch, diese
zum eigentlichen Zielpunkt seines interdisziplinären Dialogs
macht. Der Titel der amerikanischen Originalausgabe „Explana-
tions from Physics to Theology" macht noch deutlicher, das der
Vf. von den Naturwissenschaften aus sich den religiösen Erklärungen
zuwendet, weil „Religionswissenschaft und Theologie
in der Frage nach dem kognitiven Status religiöser Überzeugungen
keinen entscheidenden Fortschritt erzielen können,
wenn sie sich nicht auf eine sorgfältige Auseinandersetzung mit

der Struktur und Prüfung von Aussagen in anderen Wissenschaften
einlassen" (XIII).

Die zentrale Aufgabe seines Buches sieht Clayton darin, „die
mögliche Natur, Reichweite und Struktur einer Erklärung zu
entfalten" (5). Dabei gilt es, Ähnlichkeiten und Differenzen,
„Diskontinuität ebenso wie die Kontinuität zwischen den verschiedenen
Formen der Erklärung zu berücksichtigen" (2).

In einem beeindruckenden Gang durch den Bereich der Na-
turwissenschften (in Kap. 2 mit dem Untertitel: „Die kontextuel-
le Wende", 21-70) und der Sozialwissenschaften (Kap. 3 „Erklärung
mit Verstehen", 71-120) über einen philosophischen
Exkurs (über das „Problem der philosophischen Rationalität"
(121-131) bis hin zu „religiösen Überzeugungen als Erklärungen
" (Kap. 5, 133-170) und Theologie (171-210) erweist sich
der Vf. als ein profunder Kenner in der wissenschaftstheoretischen
Debatte und der einschlägigen Literatur und baut Stück
um Stück seine Position auf. „Heute ist der Logische Positivismus
so gründlich wie überhaupt nur jemals eine philosophische
Schule in der Geschichte der Philosophie widerlegt worden"
(21). Die Ausführungen „spiegeln einen relativen jungen Wandel
in der wissenschaftstheoretischen Debatte in der Erklärung
wider" (24). Im naturwissenschaftlichen Bereich vertritt der Vf.
eine mittlere Position zwischen Karl Popper, der in seiner Falsifikationstheorie
dahin tendiert, „die Natur- von den Geisteswissenschaften
und der Religion zu trennen", und Thomas S. Kuhn,
der in seinem "Wissenschaftsmodell daran arbeitete, jegliche
Trennung aufzuheben" (25). Die Besprechung von Imre Laka-
tos' Beitrag gibt die Begrifflichkeit an die Hand, zwischen Formalismus
und Kontextualismus zu vermitteln. Die Verstehens-
bedingungen im Bereich der Sozialwissenschaften bilden eine
wichtige Zwischenstufe auf dem Weg zur religiösen Erklärung.
Wolfhart Pannenberg, der das Geleitwort zu diesem Werk
schrieb, faßt zusammen: „Die Forderung nach Kohärenz von
Beschreibungen und Erklärungen schält sich als das wichtigste
Kriterium der Rationalität heraus, daß sie Erörterungen über
Sinn und Bedeutung mit der Frage verbindet, wie die Wahrheitsansprüche
zu beurteilen sind, die sowohl in den Wissenschaften
als auch in den religiösen Traditionen auftreten und die nach
Claytons Urteil auch in der Theologie nicht zu umgehen und
nicht eliminierbar sind".

Folgende Positionen des Werkes möchte ich herausstellen:

Der Grundsatz der altkirchlichen Zwei-Naturenlehre findet
sich hier wieder: „ungetrennt" und „unvermischt": Die Disziplinen
sind notwendig zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. C.
nennt das „Kompatibilität ohne Identität". Damit behält jede
Disziplin ihre Eigenart, bleibt aber im Rahmen des Ganzen.
Damit verbunden ist für den Vf. eine Verbindung dessen, was in
der deutschsprachigen Philosophie getrennt ist: eine „Herme-
neutisierung" der Naturwissenschaft und eine Rationalisierung
der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik. Die Dichotomie
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wird so überwunden
(vgl. 103).

In dem heutigen „säkularen Gläubigen" „koexistieren säkulare
Perspektiven und Denkweisen - wissenschaftliche, politische
und ethische - neben religiösen Erfahrungen und/oder der aktiven
Teilnahme an der ,Lebensform einer Kirche oder Synagoge
'". „Der entscheidende Punkt ist hier, daß diese Suche nach
intersubjektiver" und damit interdisziplinärer „Begründung" den
religiösen Glauben „nicht auf Ethik, Psychologie oder Einbildung
" reduziert, sondern statt dessen in die Dynamik des Glaubens
hineinnimmt. Darin ist die „Offenheit für eine Revision"
der religiösen Überzeugung enthalten (vgl. 160/62).

Theologische Erklärungen können nur systematisch - d.h. als
Teile eines vielseitigen religiösen Weltbildes und damit im Zusammenhang
mit der Philosophie und den Wissenschaften -
geprüft werden" (184). „Theologen bleiben dabei aber für die
Überzeugungen der Gemeinschaft verantwortlich, wenn sie an