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Ausgabe:

1993

Spalte:

54-56

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Weier, Winfried

Titel/Untertitel:

Religion als Selbstfindung 1993

Rezensent:

Wagner, Falk

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. I

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Wir leben in einer Zeit, in der wissenschafts- und fortschrittsgläubige
Ideologien sich selbst widerlegt haben. An ihre Stelle sind fundamentalistische
Strömungen in Religionen, Konfessionen und Weltanschauungsgruppen
getreten. In dieser Situation ist es für das glaubwürdige Zeugnis der
Christen wichtig, daß sie gesprächsbereit sind innerhalb ihrer Kirchen und
Uber deren Grenzen hinweg. Christen dürfen echte Dialogbereitschaft und
Toleranz nicht mit Glaubensschwäche verwechseln. Wir sollten uns daran
erinnern, daß der Tempel von Jerusalem einen ..Vorhof der Heiden" hatte,
einen amtlich vorgesehenen Raum für die Begegnung von Gläubigen mit
Ungläubigen. Wo gibt es das heute in unseren Kirchen und „frommen"
Gemeinden? Freilich dürfen Christen auch nicht meinen, der Vorhof sei
schon alles. M. war ein Mann des Dialoges und des Zeugnisses. Er blieb mit
seinen Vorträgen und Schriften absichtlich außerhalb des Bereichs, in dem
Christen unter sich sind. Darin sah er seine Berufung.

Wir dürfen aber auch nicht übersehen, daß Theologen die Frage kontrovers
beurteilen, ob und inwieweit das Seinsdenken auf dem Weg zum Glauben
hilfreich ist. Es kann wie beim deutschen Idealismus zur Alternative für
den Glauben entarten. Worte wie Metaphysik und Ontologie kommen nicht
aus der Sprache der Bibel, wenngleich hellenistische Einflüsse die biblischen
Weisheitsbücher geprägt haben. Mittelalterliche Theologen bauten
aus diesem Geist Systeme, die sich auf die Dauer als zeitbedingte Fesseln
erwiesen. Der frühe K. Barth sah in der katholischen Auffassung von Analogie
zwischen endlichem und unendlichem Sein den entscheidenden ev.-
kath. Unterschied. Der Basler Theologe befürchtete, der Mensch wolle sich
durch den Seinsbegriff Gottes bemächtigen wie einer Sache, er wolle Gott
haben wie einen Besitz. Er ließ deshalb anstelle der Analogia entis nur eine
Analogia fidei gelten. M. könnte den Theologen eine Richtung weisen zur
Uberwindung dieser ihrer konfessionellen Kontroverse.

Warum diese neue Auswahl? Peter Grotzer weist in der Einführung
dieser Werkauswahl darauf hin, daß zuletzt von den
über 20 im deutschen Sprachraum erschienenen Werken M.s
nur noch 3 lieferbar waren. Auch die von Siegfried Foelz besorgte
und in Leipzig erschienene zweibändige Auswahl ist seit
langem vergriffen. Sie konnte unter den damaligen Zensurverhältnissen
auch nur bestimmte Aspekte des marcelschen Werkes
vorstellen. Grotzer führt aus: die wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit M. wäre inzwischen teilweise nachgeholt
worden (vgl. die Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur
am Ende von Bd. III).

Um so wichtiger sei jetzt diese Werkauswahl, zumal die früheren
deutschsprachigen Veröffentlichungen M.s zufällig, unzusammenhängend
und in verschiedenen Verlagen erschienen
waren. Jetzt bestand die Chance einer gezielten Auswahl nach
übergreifenden Gesichtspunkten. Es ist noch nicht eine Gesamtausgabe
. Diese gibt es auch in Frankreich noch nicht. Dennoch
ist die vorliegende Werkauswahl für den deutschen Sprachraum
ein Meilenstein auf dem Weg einer notwendigen Marcelrezeption
.

Was enthalt diese Werkauswahl? Bd. I bringt zu Beginn,
gleichsam als Ouvertüre, zwei Auschnitte aus den Gifford Lec-
tures 1949/50 unter den Titeln: „Die zerbrochene Welt" und
..Das Verlangen nach Transzendenz". Der erste zeigt ungeschminkt
die dunklen Seiten der heutigen Menschheitssituation:
die Möglichkeit eines planetarischen Selbstmords, das Joch des
Molochs Staat und die Gefahren einer Einheitsmenschheit unter
der Tyrannei von staatlich verordneter Bürokratisierung und
Gleichmacherei. Ein erster Abschnitt unter der Überschrift „Sein,
Haben, Hoffnung" enthält Beiträge, deren erster auf 25 Seiten
den Kernpunkt von M.s Werk zur Sprache bringt anläßlich eines
Vortrags von 1933 vor der Philosophischen Gesellschaft von
Marseille unter dem Titel: Das ontologische Geheimnis - Fragestellung
und konkrete Zugänge. In diesem Vortrag stehen die
Sätze: „Die ständige Möglichkeit des Selbstmordes ist vielleicht
der Angelpunkt jeden echten metaphysischen Denkens." (1,72)
„Die Verzweiflung könnte das Sprungbrett zur höchsten Bejahung
sein." (1,73)

Der letzte Vortrag dieses Abschnitts ist 1942 auf Anregung
von H. de Lubac vor jungen Jesuiten gehalten worden unter
dem Titel: Entwurf einer Phänomenologie und Metaphysik der
Hoffnung. In dieser Abhandlung beschreibt M. die Hoffnung

als intersubjektive Wirklichkeit mit den Worten: „Ich hoffe auf
dich für uns." Der zweite Abschnitt des Bandes faßt Beiträge
zusammen unter der Überschrift: ,,Wahrheil. Freiheit, Zeitlichkeil
": u.a. „Begegnung mit dem Bösen". „ Mein Tod und ich";
„Der Mensch vor seiner Zukunft"; „Das Unsterbliche im Gegenwärtigen
".

Band II läßt uns nach Worten seines Hg.s S. Foelz einen
Blick in M.s philosophische Werkstatt tun. Er hat eine Auswahl
aus dem M.-Tagebuch zusammengetellt und eingeleitet. Sie
zeigt die weiten Fragehorizonte M.s und das Zustandekommen
seiner Einsichten. Gerade weil M. nicht fertige Ergebnisse vorlegen
will, sondern zu einem Weg einlädt, ist diese Tagebuchform
wichtig und aufschlußreich.

Band III bringt Vorträge und Aufsätze unter den Überschriften
: „Vom Nein zum Ja"; „Vom Glauben und von der Treue".
Von besonderem Interesse sind für den ostdeutschen Leser die
Ausführungen über „Die Techniken der Entwürdigung", die in
die Leipziger Ausgabe nicht aufgenommen werden konnten.
Auch dürften reges Interesse finden die im letzten Teil zusammengetragenen
Vorträge über zeitgenössische Philosophen:
Wust, Nietzsche, Jaspers, Sartre. Heidegger und Buber. Überlegungen
über die Weisheit im technischen Zeitalter und M.s
Philosophisches Testament schließen die Werkauswahl ab.

Einige Desiderata sind bei dieser Ausgabe noch zu vermerken.
M.s Dramen werden nur in der Einführung erwähnt und auszugsweise
gewürdigt. In der Bibliographie werden alle aufgeführt. Sie
sind nicht nachträgliche Illustrationen bereits vorhandener Einsichten
, sondern gehören als Weg seines Denkens wesentlich zu M.s
Werk. Die am meisten bekannt gewordenen Worte M.s stammen
aus seinen Dramen: „Einen Menschen lieben heißt ihm sagen: Du
wirst nicht sterben!"und „Sterbend werden wir uns dem öffnen,
von dem wir auf Erden gelebt haben." In die Gesamtausgabe sollten
die Dramen möglichst weitgehend aufgenommen werden.

Philosophische Termini können verschieden übersetzt werden durch eine
Reihe sinnverwandter deutscher Ausdrücke. Für den Begriff Präsenz ist das
in einer erläuternden Fußnote gut verdeutlicht worden (1,64). Auch die
Beifügung des originalen französischen Wortes in Klammern an vielen
Stellen ist hilfreich. Für den Ausdruck „ontologische Exigenz" in der
Bedeutungsbreite von „ontologische Forderung" bis „ontologisches Bedürfnis
" (z.B. 1,62; 1.71 und im Vorwort von P. Ricceur) wäre das auch hilfreich
gewesen. Für eine Neuausgabe sind solche klärenden Fußnoten für Schlüsselbegriffe
zu empfehlen. Noch besser für ein tieferes Verständnis ist freilich
ein französisch-deutsches Glossar im Anhang. Auch dürften ein Personen
- und Sachverzeichnis gerade wegen der unsystematischen Darstellungsweise
M.s eine große Hilfe für den Gebrauch sein.

Philosophischen, pädagogischen und theologischen Fakultäten
ist diese Werkauswahl für Seminarübungen zu empfehlen, ebenso
Studenten- und Hochschulgemeinden für philosophische Arbeitskreise
.

Dresden Michael Ulrich

Weier, Winfried: Religion als Selbstfindung. Grundlegung
einer Existenzanalytischen Religionsphilosophie. Paderborn-
München-Wien-Zürich: Schöningh 1991. 310 S. 8° = Abhandlungen
zur Philosophie, Psychologie, Soziologie der
Religion und Ökumenik, 45. NF. Kart. DM 58,-. ISBN 3-
506-70195-9.

Der in Würzburg und Salzburg als Philosophieprofessor
tätige Winfried Weier setzt sich mit seiner „Grundlegung einer
Existenzanalytischen Religionsphilosophie" das Ziel, auf ein im
letzten Jahrzehnt „stets wachsendes Interesse an der religionsphilosophischen
Fragestellung" (11) insoweit einzugehen, als
dieses auf einen ontologisch faßbaren „Prozeß der Veressentia-
lisierung der Religion als ihrer Verexistentialisierung" (12) hinweise
. Diese Formulierung zeigt sofort, daß der Leser mit