Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1993

Spalte:

707

Autor/Hrsg.:

Heymel, Michael

Titel/Untertitel:

- 718 "Der letzte wirkliche Prophet des neuzeitlichen Christentums" 1993

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4, Seite 5, Seite 6

Download Scan:

PDF

707

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 9

708

Michael Heymel

„Der letzte wirkliche Prophet des neuzeitlichen Christentums"

Eugen Drewermann als Schüler Sören Kierkegaards

Der katholische Theologe Eugen Drewermann hat durch seine
tiefenpsychologische Bibelinterpretation einem breiten Laienpublikum
neuen Zugang zur Bibel eröffnet und die historisch-kritischen
Bibelwissenschaftler zu radikaler Selbstprüfung ihres Umgangs
mit biblischen Texten provoziert. Seine Wirkung reicht
weit über die herkömmlichen Grenzen hinaus, die zwischen theologischen
Experten und Laien, Katholiken und Protestanten, der
Kirche näher und ferner Stehenden aufgerichtet sind. Mit einer
Vielzahl von Büchern ist der Autor Drewermann längst zu einer
Gestalt von ökumenischer Reichweite geworden, von der viele
sich angesprochen fühlen. Denn wie gegenwärtig kaum ein anderer
versteht er es, biblische Geschichten auf bewegende Weise für
seine Hörer und Leser zum Reden zu bringen, indem er die existentielle
Wahrheit, die in jenen Geschichten symbolisch zum
Ausdruck kommt, in universalen Bildern der Seele aufspürt.

Die Entschiedenheit und unbeirrbare Konsequenz, mit der
Drewermann sein Anliegen verfolgt, „für den modernen Menschen
den verschütteten Zugang zum Religiösen (freizulegen)",1
hat ihn bei seinem Bischof als dem zuständigen Wächter des
kirchlichen Lehramtes in den Verdacht der Häresie gebracht.
Mit disziplinarischen Maßnahmen - Entzug der kirchlichen
Lehrerlaubnis, Predigtverbot und schließlich Suspendierung
vom Priesteramt - ist der Paderborner Erzbischof Degenhardt
gegen Drewermann vorgegangen - nach Ansicht vieler Christen
keine geeigneten Mittel, die Wahrheit des Evangeliums zu bewahren
. Wogegen der Theologe Drewermann leidenschaftlich
kämpft: die „Seelenlosigkeit der heutigen Theologie",2 insbesondere
ihrer herrschenden Form der Bibelexegese, und die
Machtanmaßung einer Kirche, die „ihre ,Rechtgläubigkeit' an
das Hersagen fertiger Lehrsätze binde",3 darüber muß mit theologischen
Argumenten diskutiert werden. Es geht in diesem
Streit darum, was als rechte und verbindliche Lehre der Kirche
gelten kann, und dazu bedarf es nach evangelischem Verständnis
der theologischen Auseinandersetzung ,ohne Macht, allein
durch das Wort' (sine vi, sed verbo), in der gezeigt werden muß,
wie die Bibel angemessen zu interpretieren ist.

Für Protestanten hat der Streit, der sich in der römisch-katholischen
Kirche an den Thesen von Drewermann entzündete, eine
besondere Aktualität, insofern hier Fragen verhandelt werden,
die von Hause aus Sache der Reformationskirchen sind. Geht es
nicht um das reformatorische Anliegen der .Freiheit eines Christenmenschen
' (Luther), wenn Drewermann erklärt, er lehre
Theologie, um „die Menschen dahin zu bringen, in ihre eigene
Kompetenz in Fragen des Glaubens wieder Vertrauen zu setzen
... und die Sache Gottes als ,Laien' endlich wieder selbst in
die Hand nehmen?"4 Indem er Kritik übt an klerikaler Bevormundung
, greift er sicher ein zentrales Thema reformatorischer
Kirchenkritik auf, wie es Martin Luther mehrfach unter Berufung
auf das .Priestertum aller Gläubigen' formuliert hat.5

' Hansjakob Stehle, Der leise Prophet. Der katholische Theologe Eugen
Drewermann will eine Religion für moderne Menschen, in: Die Zeit vom 24.
1. 1992, 8.

2 Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, 2 Bde., Olten-
Freiburg 1984/85 (künftig: TE), II, 763.

„Ich brauche kein Amt, kein Geld, keinen bischöflichen Auftrag".
Eugen Drewermann hat seine Wahl zwischen der Amtskirchc und den Menschen
getroffen. Aus seinem Brief an Bischof Degenhardt, in: Frankfurter
Rundschau vom 17. 3. 1992, 10.

4 Ebd.

" Vgl. Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, WA 6,
407f; Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, WA 6, 566.
Drewermann: „Wir alle, die wir getaufte Christen sind, haben teil an der

Andererseits ist nicht zu übersehen, daß Drewermann den Protestantismus
durchaus kritisch betrachtet. So sieht er zu Recht in
der historisch-kritischen Methode, die einseitig auf die bewußte
Realität von Tatsachen fixiert sei und deswegen nach seiner Diagnose
auf einen „religiösen Irrweg"6 führe, ein Produkt protestantischer
Theologie und wirft dem Protestantismus vor, daß er
„den Glaubensvollzug wesentlich in dem reflexen Ich des Menschen
verankert",7 statt eine ganzheitliche Form des Glaubens
auszubilden, die auch die Bilder des Unbewußten einbezieht.

1. Der Protest gegen die ,Veräußerlichung' der christlichen
Existenz-Wahrheit

Wie ambivalent Drewermann dem Protestantismus gegenübersteht
, zeigt sich nirgendwo deutlicher als dort, wo er auf den
dänischen religiösen Schriftsteller und Philosophen Sören Kierkegaard
(1813-1855) Bezug nimmt. Deswegen soll hier der Frage
nachgegangen werden, wie Drewermann sich zu Kierkegaard
verhält, den er als sein „Vorbild"8 und als den „letzte(n) wirkliche
^) Prophet(en) des neuzeitlichen Christentums"9 bezeichnet
. In seinem grundlegenden Werk über .Tiefenpsychologie
und Exegese' bestimmt er sein Verhältnis zu Kierkegaard folgendermaßen
:

„Einerseits haben wir den radikal protestantischen Ansatz der Existential-
hermeneutik S. Kierkegaards in vollem Umfang und ohne jede Einschränkung
übernommen: die ganze Auseinandersetzung des menschlichen
Daseins steht in dem Spannungsfeld von Angst und Vertrauen, und je nach
der Grundbestimmung der Existenz verwandelt sich das ganze Dasein des
Menschen im Felde der Angst ins Unheil oder es gewinnt sich zurück im
Felde eines wiedererlangten Vertrauens... Andererseits leidet der Protestantismus
an dem gleichen Übel, das er bereits vom Katholizismus übernommen
hat: der Isolation des Glaubensbegriffs von den unbewußten Schichten
der Psyche."'0

Was Drewermann nach eigener Auskunft dem Dänen verdankt
, ist zunächst die Einsicht in die Aporie einer allein an der
Rekonstruktion äußerer Tatbestände der Vergangenheit interessierten
.wissenschaftlichen' Bibelauslegung. Kierkegaard habe
leidenschaftlich gegen das Dozieren in der Religion protestiert,
d.h. gegen eine vermeintlich ,objektive' Weise des Sprechens
von Gott, bei der „man sich... die Wirklichkeit Gottes stets vom
Leibe halten könne..."11 Denn auf diese Weise werde „das Christentum
mit Hilfe theologischer Geschwätzigkeit in eine Lehre
verwandelt und damit um seinen Ernst gebracht..." - was Kierkegaard
„in christlichem Sinne einen Betrug, eine Falschmünzerei
, einen treulosen Verrat, einen hinterhältigen Kriminalfall
nannte...."12 Das Betrügerische des Verfahrens besteht darin,
das Christentum, in dem eigentlich religiöse Wahrheit mitgeteilt
wird, zum Gegenstand einer auf historische Wahrheit ausgerichteten
Betrachtung zu machen, die zu ihrem vorgeblichen Ziel,
der Auslegung der religiösen Mitteilung, niemals gelangen
kann. „Einer historischen Wahrheit kann man stets nur annäherungsweise
auf die Spur kommen, und zwar um so besser, als

Prophetengabe des Heiligen Geistes, der uns in dem Sakramente der Taufe
verliehen wurde..." (Nachsicht und Aussicht oder: Wie es kam und wie es
weitergeht, in: Worum es eigentlich geht. Protokoll einer Verurteilung,
München 1992, 14).

6 TE I, 23.

7 TE II, 775.

° Eugen Drewermann, „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen". Antwort
auf Gerhard Lohfinks und Rudolf Peschs „Tiefenpsychologie und keine
Exegese", Olten-Freiburg 2. Aull 1988, 15.

9 TE I, 12; vgl. II, 372; An ihren Früchten, 29.

10 TE II, 774.
" TE I, 13.

'2 An ihren Früchten, 26.