Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1993

Spalte:

671-674

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gutmann, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Über Liebe und Herrschaft 1993

Rezensent:

Mau, Rudolf

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

671

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 7/8

672

genannt werden, wie dies beispielsweise SS 97 und 100 geschieht
.

„Eine Agende, die Ordnungen und Texte für den Dienst der
Kirche an Kranken anbietet, muß die Situation der Kranken in
unserer Gesellschaft berücksichtigen, biblisch-theologischen
Maßstäben entsprechen und auf seelsorgerliche Erfordernisse
eingehen" (8). Auf jeder Seite spürt man der Agende das
Bemühen ab, diesen Grundsatz zu verwirklichen. Immer wieder
wird unterstrichen, daß bei allen Besuchen, Gesprächen und liturgischen
Handlungen sorgfältig auf die Bedürfnisse der Kranken
zu achten ist. „Es gibt Menschen, die eine Zuwendung in
freien Worten brauchen und geprägte Formen als starr und
unpersönlich empfinden" (24). Dem „Hören" wird ein kurzer
Abschnitt gewidmet: „dem anderen Raum geben, ihm zuzuhören
, kann schon eine Form des Tröstens sein" (20). Klagen
und Anklagen werden zugelassen, „dem Wunsch, auch Ängste,
Aggressionen und Zweifel zu Wort kommen zu lassen", wird in
den „Texten zur Auswahl" (107ff.) Rechnung getragen. Aber
auch der Individualität des Seelsorgers (und der Seelsorgerin)
und seinen eigenen Ängsten und Problemen wird Beachtung
geschenkt (20, 98, 101). So wird die Agende in die Seelsorge
eingebettet.

Die agendarischen Texte und Formen können von den Seelsorgern
und Seelsorgerinnen (aber auch die ehrenamtlichen Helferinnen
und Helfer werden angesprochen) flexibel und variabel
genutzt werden. In so stark verunsichernden Situationen, wie
sie regelmäßig Besuche bei Kranken und Sterbenden mit sich
bringen, sind sie eine unentbehrliche Hilfe. Seelsorger und Seelsorgerinnen
tun gut daran, die Texte sorgfältig zu studieren und
einige sich auswendig zu eigen zu machen, damit im Vollzug
selbst kein Buch zu stören braucht.

Mit Nachdruck will ich auf „Die Segnung der Kranken" hinweisen
. In diesem Abschnitt finden sich behutsame Anweisungen
für die Krankensalbung - hier weist die Agende in die Zukunft
.

Bei den unterschiedlichen Formen der Austeilung des
Abendmahls (beispielsweise kann das Abendmahl, wenn bestimmte
Gründe es erfordern, auch nur in einer Gestalt gereicht
werden) könnte vielleicht noch die „Intinctio" (das Eintauchen
der Oblate in den Wein) erwähnt werden, die sich vielerorts in
Krankenhäusern bewährt hat.

Die „Texte zur Auswahl" (107ff) sind auch zur eigenen Meditation
geeignet.

Angefügt ist ein „Frageraster für die Stellungnahme zum
Entwurf (164-167) - Krankenhausseelsorger und Seelsorgerinnen
sollten ihre Erfahrungen mit dieser Agende der Liturgischen
Konferenz weitergeben. Viele werden um eine schlichtere
, weniger liturgisch befrachtete Sprache der Gebetsttexte bitten
.

Hannover Hans-Christoph Piper

Gutmann, Hans-Martin: Über Liebe und Herrschaft. Luthers
Verständnis von Intimität und Autorität im Kontext des Zivilisationsprozesses
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991.
X, 385 S. m. Abb. gr.8° = Göttinger theologische Arbeiten,
47. Kart. DM 78,-. ISBN 3-525- 87800-1.

Der Haupttitel des Buches verspricht die Behandlung einer
bei Luther zentralen und zugleich hochaktuellen Thematik: ist
doch nach Luther nicht nur das Evangelium als Modus der
Herrschaft Christi Inbegriff von Gottes Menschenliebe, sondern
auch die Durchsetzung öffentlicher Ordnung dem Anspruch
unterstellt, dem „Recht der Liebe" Geltung verschaffen zu sollen
(WA 11, 279). Bei der Lektüre sucht man allerdings diese
Leitgedanken vergebens.

Das Interesse der schon 1988 im Fach „Praktische Theologie
" vorgelegten Dissertation richtet sich statt dessen auf die
Einordnung des Seelsorgewirkens Luthers in die Optik aktueller
sozialwissenschaftlicher Theorieansätze. Was letztere angeht,
so bietet die Arbeit mit zahllosen Bezugnahmen und Kurzreferaten
im Zuge der Behandlung ihres Gegenstandes einen (nach
dem Eindruck des Nichtfachmanns) beachtlichen Sachstandsbericht
. Der Vf. handhabt virtuos und mit produktivem Elan einschlägige
ambitiöse Terminologien, nimmt dabei auf viele eingerückte
(überwiegend lateinische) Luthertexte bezug, läßt
allerdings bei energischem Zugriff aus der Optik seiner Theoreme
oftmals die nötige Sorgfalt des Hörens auf das, was Luther
selber sagt und meint, vermissen.

Praktisch-theologisch hat die Arbeit ihren Ort in der u.a.
durch die Namen D. Stollberg und D. Rössler markierten
Grundsatzdebatte zur Seelsorgethematik. Während Rössler
einen „Beitrag" Luthers zum Verständnis von Seelsorge bestreitet
, da dieser nicht den „Seelsorger als Erzieher" verstehe, will
Vf. nachweisen, daß gerade das letztere bei Luther deutlich ausgeprägt
sei. Das wird aus der Optik von „Familienseelsorge"
zur Darstellung gebracht. Zu diesem Zwecke aber wird nun das
erwähnte sozialwissenschaftliche Instrumentarium vorgeführt
und betätigt. Als Leitbegriff dient dabei (s. Untertitel!) die
sozialhistorische These vom „Zivilisationsprozeß zur bürgerlichen
Gesellschaft", der sich, wie man der Darstellung entnimmt
, zur Zeit der Reformation gerade in seinen Anfängen
befunden haben soll. Der Vf. bezieht sich hierfür auf Norbert
Elias als „sozialwissenschaftlichen Gewährsmann". Es geht
hier um den Theorieansatz der „Figurationspsychologie", der
„die unauflösbare Verschränkung von Psycho- und Soziogene-
se" behauptet, genauer: die Zusammengehörigkeit der „Entstehung
eines Charaktertyps, der sich durch eine Innenkontrolle
gegenüber eigenen Affekten auszeichnet", mit der „Zentralisierung
gesellschaftlicher Macht" (12). Das ganze ist zwar durch
P. Duerr 1990 als „Mythos" abqualifiziert worden, u.zw. mit
„Materialfülle" und „spritziger Formulierung", aber Vf. meint
doch (ohne explizite Auseinandersetzung), daß Duerr „seinen
Gegenstand nicht recht trifft" (Vorwort). So bleibt es denn
dabei, daß Elias das „bis dato fortgeschrittenste Modell einer
Analyse" des besagten Zusammenhangs vertritt (293), und am
Ende avanciert gar Luther selbst posthum als „Zivilisationstheoretiker
" zum „.Vorläufer' des Theorieansatzes von Norbert
Elias" (344).

Zum theoretischen Rüstzeug des Vf.s gehört über das Genannte
hinaus das „Pathos" der „Subjektivität des Untersuchenden
". Das wird „als unaufgebbarer Bestandteil des hermeneuti-
schen Zugangs zum Gegenstand behauptet" (Vorwort). Im
Klartext: Der Vf. ist „ein Mann", gehört „einer gebildeten bürgerlichen
Lebenswelt" an und lebt im „Kontext einer durch
strukturelle Ungleichheit und Ungerechtigkeit gekennzeichneten
spätkapitalistischen Gesellschaft mit zunehmend krisenhaften
und konfliktreichen Zügen" (17). Die marxistisch-neomarxistischen
Implikationen dieser Selbstdefinition werden durch
Sichtweise, Terminologie und wiederholte Bezugnahmen auf
die diesbezügliche Ahnenreihe vielfältig konkretisiert. Das ganze
kulminiert dann in der durch die feministische Diskussion
veranlaßten methodischen „Infragestellung meiner eigenen Rolle
als Mann", die „in ihren psychischen und gesellschaftlichen
Implikationen immer neu zu reflektieren" sei (18).

Zu Luther vertritt der Vf. die These: „In der Spannung zwischen
der tötenden und Leben schaffenden Intimitätserfahrung
(der Glaube an das Wort, das den inneren Menschen richtet und
freispricht) und der Notwendigkeit, daß sich der innerlich neu
gewordene Mensch unter den Bedingungen der Alten Welt
regelgeleiteten Formen der Selbstkontrollesund der Koordination
von Handlunsperspektiven unterwerfe, wird das Verhältnis
von ,Intimität' und ,Autorität' bestimmbar." Sodann: Die „seel-