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Ausgabe:

1993

Spalte:

649-651

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Habichler, Alfred

Titel/Untertitel:

Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant 1993

Rezensent:

Kern, Udo

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 7/8

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te usw.). - Tabellen, Einzelerläuterungen und Proben einer
Textgegenüberstellung lutherscher und vorlutherscher Evangelienauslegung
finden sich im Anhang dieses eigentlich überreichen
, in methodischer Hinsicht gleichwohl brillanten Buches.

So sehr diese große, frühe Forschungsarbeit E.s eine Erweiterung
der Lutherkenntnis bedeutet, so sehr ist sie auch eine bahnbrechende
Zusmmenstellung und eine sorgfältige, vorbildliche
Anwendung des hermeneutischen Instrumentariums als solchen.
In dieser Hinsicht hat sie noch heute Lehrbuchcharakter und es
kommt ihr ein markanter Platz in der Geschichte der Hermeneutik
im 20. Jh. zu. Paradigmatisch zeigt sie auf, wie ein gegenwärtiges
Erfassen der Wahrheit notwendigerweise verknüpft ist
nicht allein mit „Textauslegung", sondern auch mit einer hermeneutischen
Erforschung der Auslegungsgeschichte bestimmter,
immer wieder interpretierter Texte. Niemals zuvor in der Forschung
war so sorgfältig und kompetent z.B. danach gefragt
worden, was denn eine „exegetische Quelle" überhaupt sei; oder
was man denn in hermeneutischer Hinsicht (zu Recht bzw. zu
Unrecht) meine, wenn man von einer kirchengeschichtlichen
Epoche und ihrer Prägekraft gegenüber Texten spricht. Heute
scheint - auf neuem geschichtlichen Plateau gegenüber den zwei
Jahrzehnten vor und den zwei Jahrzehnten nach dem zweiten
Weltkrieg - erneut Interesse an der Hermeneutik aufzuflammen,
in der Philosophie ebenso wie in der Theologie. Es ist gut, daß
nun Ebelings frühes, grundlegendes Werk auch für diesen neuen
Gesprächsgang wieder zugänglich wurde.

Berlin Christof Oestrich

Habichler, Alfred: Reich Gottes als Thema des Denkens bei
Kant. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Studie
zur kantischen Reich-Gottes-Idee. Mainz: Grünewald 1991.
II, 301 S. 8° = Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie
, 2. ISBN 3-7867-1540-8.

Alfred Habichler, der sich als Schüler von Max Seckler versteht
, will in seiner im Wintersemester 1989/90 von der katholisch
-theologischen Fakultät in Tübingen angenommenen und
nun im Druck vorliegenden Dissertation den Reich-Gottes-
Gedanken bei Immanuel Kant emphatisch herausstellen. Er versteht
die Reich-Gottes-Idee als „den Konstruktionspunkt"(227)
und systematischen „Schlußstein" (284) von Kants philosophischem
Denken überhaupt. Das gelte trotz der schmalen kant-
schen Textbasis. Nun ist H. wahrlich nicht der erste, der sich mit
dem Reich-Gottes-Motiv bei I. Kant beschäftigt, und ich kann
H. nicht zustimmen, wenn er behauptet, daß es „kaum Arbeiten
/in Reich-Gottes-Idee bei Kant" gäbe (71). Ich erinnere nur an
die Arbeiten E. von Sydows (1914), E. Ch. Hirschs (1969), H.
Schleiffs (1975) und Il'.-G. Schütz'(1977), die II. selbstverständlich
kennt und heranzieht. Allerdings genügen H. die bisherigen
Arbeiten nicht. Rigoros kritisch geht H. zuweilen mit der bisherigen
und aktualen Kantforschung um. Man wünschte hier eine
fruchtbarere Aufnahme durch den Vf.

Historisch-genetisch ventiliert H. die Herausbildung des
Reich-Gottes-Gedankens im gesamten Denken Kants. Kant sei
einerseits bei seiner Reich-Gottesvorstellung von Luthers Zweireichelehre
geprägt - deren aktuale Diskussion H. nicht zu kennen
scheint (vgl. 78 Anm. 2), - andererseits führe „über Luthers
von Augustin her geprägte Reichsvorstellung... kein unmittelbarer
Weg zu Kant" (78). Entscheidend sei Kant dagegen durch
die pietistische Interpretation des Reiches Gottes geprägt, die
präsentisch, innerlich und qua „rcichsgeschichtlicher Betrachtung
" das Reich Gottes verstünde. - Kant sei kein Ignorant zeitgenössischer
theologischer Literatur gewesen (gegen Borows-
ki). So habe er wohl eher bei J. Fr. Stapfer als bei F. V. Reinhard
theologische Anleihe gemacht (801.).

Die Debatte „Kant als Philosoph des Protestantismus" desavouiert
H. als nicht sehr ergiebig. Sicher sind die bisherigen
Arbeiten zu diesem Thema (von J. Kaftan, F. Paulsen, E. Katzer,
R. Kroner, E. Franz, O. Flügel, H. Scholz, B. Bauch und Werner
Schultz) nicht suffizient. Die Fragestellung als solche ist aber
damit nicht als unfruchtbar erledigt.

Alle Entwicklungslinien des Reiches Gottes bei Kant, die H.
herausarbeitet, münden in Kants Religionsschrift, die H. hoch
wertet und gleichsam als Vollendung des Kantschen Denkens
überhaupt ansieht. Allerdings werde diese erst recht aufgeschlossen
, wenn kontextual-genetisch deren Vorläufe (d.i. letztlich
Kants übriges Werk) zur Gellung gebracht würden. So
erweise sich Kants „Reich-Gottes-Idee als .Synthese' vieler
Stränge früherer (sc. kantscher) Denkansätze" (284). H. eruiert
insbesondere die Reich-Gottes-Problematik in der vorkritischen
Phase, den drei Kritiken und im geschichtsphilosophischen Denken
Kants, die alle ihren Schlußstein in der Reich-Gottes-Inter-
pretation in Kants Religionsschrift fänden. In den vorkritischen
Schriften sei „ein dreiteiliges Spektrum von Reichsvorstellungen
" festzustellen: 1. „die in Anlehnung an das Aufklärungsdenken
formulierte Wendung eines Meiches Gottes auf Erden'", 2.
„die theologisch gefärbte Version eines Reiches Gottes in uns".
3. „die Vorstellung eines .mundus intelligibilis' im Übersinnlichen
". (191) Dieser 3. Punkt werde viatorisch von der Kritik der
reinen Vernunft, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bis
zur Kritik der praktischen Vernunft konturiert. (192) Der zweite
Punkt werde aufgenommen und verarbeitet „über den geschichtsphilosophischen
Ansatz, hin zur Kritik der Urteilskraft"
(193).

Der für die Kantsche Philosophie konstitutive Grundpfeiler
Freiheit bewährt sich auch in dessen Reich-Gottes-Verständnis.
Das Reich Gottes ist dort für I. Kant präsent, „wo Menschen in
geschichtlich vermitteltem Freiheitshandeln miteinander Gerechtigkeit
, Wahrheit, Friedfertigkeit und Liebe üben", in Kantscher
Terminologie: tugendhaft sind. (275) Im Ringen in Freiheit
zum Guten entfalte sich für Kant der Siegeszug des Reiches
Gottes. (272) Jedoch werde das „,Reich Gottes auf Erden'... bei
Kant niemals zu einer rein säkularen politischen Größe, zur
säkularisierten Gestalt eines messianischen Reiches". (223)
Aber auch nicht zu einer geschichtslosen ,„intelligible(n) Welt'"
werde das Reich Gottes bei Kant. (224) Kant, der - wie der Vf.
zu recht betont - innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft das
Reich Gottes interpretiere, sei also nicht auf bloße Säkularisierung
des Reiches Gottes aus. (14) - Kants Bedenken des Reiches
Gottes könne durchaus fruchtbar sein für aktuales Verstehen
der biblischen Botschaft Jesu vom Reich Gottes. (14)

Auch werde das Reich Gottes bei Kant nicht ekklesiologisch
enggeführt. Die Kirche sei ihm nicht „societas perfecta" (264).
die als solche das Reich Gottes repräsentiere, „sondern lediglich
Elemente in ihr können dazu imstande sein" (266). Kant kenne
den Unterschied von „ecclesia militans" und „ecclesia triump-
hans" und mache seine Ekklesiologie am Volk Gottes fest. (266)
Mit R. Schaeffler kann man nach H. partiell ekklesiologische
Übereinstimmung zwischen Kant und dem Zweiten Vatikanischen
Konzil feststellen. (264 Anm. 108) Hier muß man H. und
seinen Gewährsmann zur Vorsicht mahnen. Auch vermißt man
bei H. den soliden Diskurs in bezug auf protestantische Ekklesiologie
, die m.E. bei Kant evident ist (vgl. meinen Aufsat/
„Kirche als Hausgenossenschaft der Freien. Grundstrukturen der
Ekklesiologie Immanuel Kants", in: ThLZ 109, 1984, 705-716).
Die Interpretation Kantscher ekklesiologischer Aussagen bei H.
kommt über grobe Anstriche kaum hinaus. So ist es nicht verwunderlich
, daß hier Verzerrungen eintreten, so hinsichtlich der
Kantschen Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche
. - Zuzustimmen ist H„ wenn er bei Kant das Reich Gottes
als nicht aufgehend in gesellschaftliche Gestaltungen und Institutionen
(einschließlich der Kirche) urgiert. (vgl. 267)