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Ausgabe:

1993

Spalte:

632-634

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Warum sie sterben mußten 1993

Rezensent:

Nowak, Kurt

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631

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 7/8

632

Mit diesen Versen schilderte der Geistliche Conrad Joachim
Ummen die Flutkatastrophe vom Heiligen Abend 1717, die
schwerste Sturmflut der Frühen Neuzeit, die die deutsche Nordseeküste
erfaßte, riesige Verluste an Menschen, Vieh und Gerät
mit sich brachte, und von der sich manche Landschaften über
Jahrzehnte ja bis zum Ende des Jahrhunderts nicht erholten. Im
Februar 1718 folgte zudem eine weitere Flut, die die Depression
der Bewohner steigerte. Die Weihnachtsflut bedeutete einen
„tiefe(n) Einschnitt in der Geschichte der Küstenländer" (265) -
so groß, daß man nach ihm mancherorts mit einer neuen Jahres-
zählung begann.

In acht überschaubaren Kapiteln behandelt der Autor das
Ereignis selbst, sodann Rettungsmaßnahmen, Bestandsaufnahmen
an Verlusten und Schäden sowie zeitgenössische Erklärungen
, Auswirkungen in Gestalt von Hungersnot und Armut (auch
Hilfe für die Armen), wirtschaftlichen Niedergang, Verfall gesellschaftlicher
Normen und Deichwesen. Eine Einleitung
berichtet über Forschungsgeschichte und Forschungsstand, ein
Schlußkapitel reflektiert über die Katastrophe als Krise.

Mit Akribie hat der Vf. aus verstreutem Archivmaterial die
Verluste und Schäden an Menschen, Vieh, Häusern, Getreide
und anderen Vorräten sowie Deich- und Sielschäden zusammengestellt
und sorgfältig bewertet, andererseits auch die Lintel
Stützung mit Brot, die quellenmäßig sehr gut greifbar ist, ausgebreitet
. Insgesamt ist es beachtlich, wie gut trotz aller
Schwierigkeiten die frühncuz.eitliche Armenfürsorge funktionierte
. Trotz der erheblichen Datenmenge, die in der Darstellung
verarbeitet wurde, ist der Text lesbar geblieben; man kann
sich freilich fragen, ob das Material wenigstens teilweise nicht
doch stärker tabellarisch hätte aufbereitet, kommentiert und
kürzer ausgewertet werden können. So finde ich Kap. 6.1
„Kampf dem Hunger" trotz der begreiflichen Absicht, die Einzelfälle
und -Schicksale zu schildern und damit die Menschen
nicht nur als statistisches Material zu behandeln, doch etwas
langatmig.

Den Theologen und Kirchenhistoriker interessieren insbesondere
die Kapitel 5: Bestandsaufnahme II: Zeitgenössische Erklärungen
und 8: Auswirkungen III: Verfall gesellschaftlicher
Normen.

Kap. 5 führt die verschiedenen Deutungen zeitgenössischer
Theologen im Umkreis von Orthodoxie, Pietismus und beginnender
Aufklärung vor, die in Predigten, Erbauungsschriften,
Gedichten und Liedern die große Flut zum Gegenstand der
Betrachtung und Erklärung machten. Während sich physikotheo-
logische Deutungen noch nicht nachweisen lassen, griffen die
Autoren zum Teil auf ältere naturmystische Vorstellungen zurück
. Besonders interessant sind die Deutungsversuche auch deshalb
, weil sich hier Übergänge zur modernen Naturwissenschaft
andeuten. Die Autoren fühlten sich herausgefordert, das Verhältnis
von Gott und natürlichen Ursachen zu bestimmen, was sie
u.a. durch die Zuordnung von Gott als der prima causa und den
natürlichen Ursachen als den secundae causae taten. Aber wie
man diese „Particular-Sündfluth" (88) beurteilte, war denn doch
auch immer eine Frage des eigenen Glaubens und der möglichen
Plausibilität: ob als Mittel Gottes zur Besserung, als Strafrute, als
Gnadenerweis oder als Warnung, als Wunder, ja als Realisierung
biblischer Vorverkündigung (vgl. 90; Arnos 8,10). Nach der
Erfahrung der Sturmflut suchte man ex eventu nach Vorwarnungen
in den vorausgegangenen Jahren, deren man zahlreiche fand.
Doch konnte die Weihnachtsflul auch selbst als Vorzeichen eines
noch größeren Unglücks gedeutet werden.

Pietistische Ausleger brachten das Ereignis der Heiligen Nacht
gar in einen Zusammenhang mit dem Reformationsgeschchen -
200 Jahre nach der Reformation stehe deren Vollendung noch
aus. (Interessant ist am Rande, daß man, um dem entstandenen
Pfarrermangel zu begegnen, in Emden auch erwog, Personen
ohne Theologiestudium zum Predigtamt zuzulassen; 144).

Kap. 8 berichtet von Strandraub (und z.B. vom Mißbrauch des
Liedes „Wer nur den lieben Gott läßt walten" beim Auffinden
von Strandgut; 212), von den Problemen, die sich bei der Bergung
von Tierkadavern durch die Bevölkerung ergaben ( Abdecker
galten als „unehrliche Leute"), schließlich von durch die
Not gebotenen Begräbnissen ohne Pfarrer und „ohne Leichensermon
" (221). Not und Katastrophe bestimmten weitgehend Tun
und Lassen der Menschen. Im Bereich von Kirche und Frömmigkeit
wünschte man sich eine breitere Überlieferung, aus der der
Vf. hätte schöpfen können. Gibt es nicht vielleicht Eintragungen
in Kirchenbüchern oder Nachrichten in autobiographischen
Quellen?

Dem binnenländischen Leser, an den Theodor Storni in seinen
Novellen so rücksichtsvoll dachte, fehlen Karten und ein Glossar
- die Ansätze zu letzterem in den Anmerkungen sind doch zu
sporadisch. Wer weiß schon, was Warfsleute, Ruten, Braken und
Kolken sind? Und wer kennt sich in der Geographie der deutschen
Nordseeküste so gut aus, daß ihm die Lokalisierung von
Brunsodder Koog, Charlottenpolder oder Hayenschloter Hammerich
(um nur einige besonders eindrucksvolle Namen zu nennen
) - Lokalitäten, die das Ortsregister ordentlich verzeichnet,
keine Mühe machte? Im Literaturverzeichnis vermißt man des
Vf.s eigene Dissertation: Der frühe Pietismus in Schleswig-Holstein
. Göttingen 1983 (ThLZ 110, 1985, 745-747) - dies vielleicht
doch ein Zeichen allzu großer Unaufdringlichkeit.

Für eine Kirchengeschichte, die ihre Sache umfassend zu
betreiben versucht und der daran gelegen ist - und sein sollte -.
die Grenzen der Städte und der Bürgerkirche zu überschreiten,
ist das vorliegende Buch ein ausgesprochener Gewinn. Zwar
wünschte man sich eine breitere Behandlung der „Volksreligion
", aber die Quellen geben offenbar nicht mehr her und führen
über die Wahrnehmung und die Urteile der Pastoren (deren
Rolle bei der Bewältigung der Folgen der Katastrophe sich als
ziemlich bedeutend darstellt und die deshalb vielleicht ein
wenig kräftiger hätte akzentuiert werden können) leider selten
hinaus. Was die Kirche für das kollektive Bewußtsein, gar für
das religiöse Leben der Gemeinden oder einzelner bedeutete
und inwiefern „die Existenz der Einwohner nicht nur in materieller
, sondern auch in spiritueller Hinsicht in Frage" gestellt
wurde (267), läßt sich kaum deutlich erkennen. Immerhin, die
Kirchen waren die Stätten des Gedenkens; Erinnerung und
Mahnung hatten hier ihren Ort.

Der Vf. hat seinen Gegenstand methodisch vielfältig bearbeitet
, ist ihm dabei in seiner Vielfalt gerecht geworden und hat ihn
durch die verschiedenen Fragestellungen für mehrere Disziplinen
erschlossen. So bietet das Buch mehr als einen „Beitrag zur
Historischen Katastrophenforschung" (VII). den es auch erbringt
und für den es Bahnbrechendes - man möchte vielleicht
lieber schreiben: Deichbauendes - geleistet hat. Ich habe Jaku-
bowski-Tiessens Buch, eine Kieler Habilitationsschrift, die sei
nem Lehrer Hartmut Lehmann, vor allem aber dem Autor selbst
Ehre macht, gern gelesen - eine Darstellung, die weithin beachtliche
erzählerische Qualitäten aufweist und bestimmt ist
von einer freundlichen, sympathischen Humanität.

München Johannes Schilling

Müller, Christine-Ruth, u. Hans-Ludwig Siemen: Warum sie
sterben mußten. Leidensweg und Vernichtung von Behinderten
aus den Neuendettelsauer Pflcgeanstalten im „Dritten
Reich". Hg. vom Verein für bayer. Kirchcngeschichtc, Nürnberg
. Neustadt a.d. Aisch: Degener i. Komm. 1991. VIII, 246
S., 6 Abb. auf Taf. gr.8° = Einzelarbeiten aus der Kirchenge-
schichte Bayern, 66. ISBN 3- 7686-9112-8.

Im Jahr 1977 warfen zwei kritische Außenseiter dem L ang.
Luth. Diakoniewerk Neuendettelsau, der Bayerischen Landes-