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Ausgabe:

1993

Spalte:

617-619

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wechsler, Andreas

Titel/Untertitel:

Geschichtsbild und Apostelstreit 1993

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 7/8

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Sehr nützlich ist die Eugen-Drcwcrmann-Bibliographie von
A. Sobel. Sie vermittelt einen Überblick über das gesamte CEuv-
re, auch über die Sekundärliteratur. Ergänzt wird sie durch eine
kurze Biographie Drewermanns sowie durch einen Abschnitt
„Drewermann lesen: Kleine Lektürehilfen". Hier werden Empfehlungen
ausgesprochen, wie man sich dem Werk D.s nähern
kann, w as man zum Einstieg lesen sollte.

Zu begrüßen ist auch die Dokumentation „Der Streit um
Drewermann. Was Theolog(inn)en und Psycholog(inn)en kritisieren
". Abgedruckt werden hauptsächlich Aufsätze, die bereits
wo anders erschienen sind, in Zeitschriften, die nicht für jeden
leicht zugänglich sind.

Die Beiträge im einzelnen: J. Blank, Die Angst vor dem Sturz ins Bodenlose
; H.-J. Venetz, „Mit dem Traum, nicht dem Wort ist zu beginnen." Tiefenpsychologie
als Herausforderung für die Exegese? M. Kassel, Bibel und
I iefenpsychologie. Eine Sichtung des Streits um Eugen Drewermann; D.
Funke. Ewige Urbilder? Einige Anmerkungen zu D.s tiefenpsychologischer
Hermeneutik; V. Stolle. Tiefenpsychologische Schriftauslegung; H. Stenger.
Die Wiederentdeckung der Bilder. Überlegungen zu Eugen Drewermanns
Deutung der lukanischen Kindheitsgeschichte; D. Neuhaus, Der Schatten
der Bilder; H.-M. Barth. Protestantismuskritik und Ökumeneverständnis bei
Eugen Drewermann; B. Irrgang, Eugen Drewermann und die theologische
Ethik; J. Splett, Anfragen zu Eugen Drewermanns Anthropologie wie zu seinem
Religions- und (iottesverständis; A. Zottl, Glaube als kollektive Vernunft
. Eine notwendige Ergänzung zu Eugen Drewermann. - A. Sobel als
Mithg. bietet zusätzlich einen Literaturbericht über Drewermanns Werke;
dieser knappe Bericht ist so gut gelungen, datt er dazu verführen könnte, sich
die Lektüre der Originalschrift zu ersparen.

Das Buch von C. Marcheselli-Casale über D.s Theologie ist
zu unkritisch. Es ist vollkommen linientreu und gibt das Denken
des verehrten Meisters einfach nur wieder. Zufrieden mit dem
Buch, steuert D. persönlich das Vorwort bei, das er so beschließt
: „Ich bin sehr froh, daß die erhellende und verständis-
volle Arbeit von Cesare Marcheselli-Casale gerade jetzt erscheint
. Die Dunkelmänner werden es schwerer haben." (13).

St. Blaise (Schweiz) Walter Rebell

Wechsler, Andreas: Geschichtsbild und Apostelstreit. Eine
forschungsgeschichtliche und exegetische Studie über den
antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11-14). Bcrlin-New
York: de Gruyter 1991. XIII, 425 S. gr.8° = Beiheft zur Zeitschrift
für die neutcstamcntlichc Wissenschaft, 62. Lw. DM
162,-. ISBN 3-11-013399-7.

Zu den entmutigenden Erfahrungen, die der Bibelwissenschaftler
machen muß, gehört die stete Konfrontation mit einem
Vorurteil: dem vorgeblichen Bedeutungsschwund der Gegenstände
seiner Arbeit für die kirchliche Praxis. Die Einsicht in die
Modellhaftigkeit und die hermeneutischc Relevanz urchristlicher
Probleme und Konstellationen hat fraglos abgenommen. So
ISl es bemerkenswert, wenn es einem Autor gelingt, hier gegen-
zuhalten. Daß die Belassung mit einem Konfliktfall des apostolischen
Zeitalters geeignet ist, die Gegenwartssituation zu erhellen
, zeigt die vorliegende Studie über den antiochenischen Zwischenfall
, die wie eine schulgerechte Dissertation erscheint und
doch viel mehr ist. Der kühn formulierte Satz eines Außenseiters
, den man in dieser Zeitschrift lesen konnte: „Sag mir, wie
du mit Gal 2.1 1 ff umgehst, und ich werde dir sagen, was für ein
Christ du bist" (ThLZlIO, 1985,289), scheint sich hier als
Schlüssel zu bewähren - nicht zuletzt für die umfänglich präsentierte
Forschungsgesehichte.

Zunächst aber ist von drei möglichen Ebenen die Rede, auf
denen der Zusammenstoß zwischen Petrus und Paulus für die
' rage nach Einheit und Wahrheit in der Kirche aktuell bedeutsam
werden kann: beim Konflikt innerhalb der eigenen Kirche
'Beispiele: Kirchenkampf, Verhältnis von Universitätstheologie
und Lehramt in der katholischen Kirche), auf der interkonfessionellen
Ebene („Petrus und Paulus als Pole der Einheit", syn-
esthiein als Wesen des Christentums bei F. Mußner), in den
interreligiösen Beziehungen von Christentum und Judentum im
Zeichen der nach dem Holocaust neu aufgebrochenen Israelproblematik
(Sachkritik an Paulus und „Besitzverzicht"). Von da
aus ergibt sich für den Vf. der Einstieg in den Hauptteil seiner
Arbeit, wie es der als Leitlinie zu verstehende Satz kenntlich
macht: „Gerade hier kann der Beschäftigung mit der Forschungsgeschichte
eine Art Kontrollfunktion zukommen, sofern
sie wesentliche bisher erarbeitete Ergebnisse als bleibende historische
und theologische Grundlagen in Erinnerung ruft und dort
Warnschilder postiert, wo Denkkonstruktionen in Sackgassen
geführt haben." (29)

Der Zeitabschnitt, der hier behandelt wird, umfaßt das Jahrhundert
von F. Chr. Baur bis zu J. Weiß und H. Lietzmann. Der
Vf. füllt damit eine Lücke aus. die in dem vortrefflichen Exkurs
„Gal 2,11-14 in der Auslegungsgeschichte" von F.Mußner (Ga-
later,HThKNT 9,1974,146-167) offen geblieben war. Während
dort die Positionen der Kirchenväter und Luthers einerseits, die
der Forschung seit 1920 andererseits mit scharfen Konturen herausgearbeitet
werden, fällt hier das Licht auf das für viele heutige
Exegeten bereits im Dunkeln liegende 19. Jh. Es zeigt sich:
Die Vielfalt der Auslcgungsmöglichkeiten ist in dieser Periode
nahezu ausgeschritten worden. Fast alle bedeutenden Neutesta-
mcntler dieser Zeit haben ihren Beitrag geleistet, so daß w ir mit
diesem Werk einen Querschnitt durch die Forschungsgeschichte
vom Spätrationalismus bis zur Religionsgeschichtlichen Schule
vor uns haben, wobei außerdeutsche und außerprotestantische
Stimmen mit Recht unberücksichtigt bleiben konnten.

Am Anfang war F. Chr. Baur - jedenfalls was den rein geschichtlichen
Standpunkt bei der Erfassung des antiochenischen
Zwischenfalls angeht. Für ihn ist Gal 2,11-14 ein „Schlüsselereignis
", bei dem die beiden konträren, letztlich in der Person
Jesu selbst wurzelnden Kräfte der urchristlichen Zeit, partikula-
ristisches Judenchristentum und universalistischer Paulinismus.
im schroffen Gegensatz, wider einander standen. Es ist eindrucksvoll
zu sehen, wie die Baursche Konzeption bei seinen
Schülern, den „Tübingern" teils relativiert, teils ausgebaut wird.
Vorgestellt werden die differenziertere Bewertung des Petrus
bei A. Schwegler, die kritische Aufarbeitung der Apostelgeschichte
bei E. Zeller, die Zurücknahme des schroffen Gegensatzes
zwischen der Urgemeinde und Paulus bei A. Hilgenfeld und
die Psychologisierung vor allem des Paulus bei C. Holsten. Daß
die Tübinger die Mitte halten, auf deren Boden der Fortschritt
der Erkenntnis weiterführt, wird in der Darstellung dadurch
sichtbar, daß die Positionen zur Linken und zur Rechten von
ihnen deutlich abgesetzt werden.

Auf dereinen Seite die Überspitzung des kritischen Ansatzes
in der destruktiven Hyperkritik Bruno Bauers, für den mit der
Preisgabe der Authentizität der Paulinen der antiochenische
Zwischenfall zum unhistorischen Konstrukt wurde, sowie die
spekulative Radikalkritik der Holländer. Die Rechte erscheint
dem gegenüber von dem Versuch bestimmt, das traditionell einheitliche
Geschichtsbild des Urchristentums zu retten. In der
von A. Neander eröffneten Reihe Wieseler, Lechler. Hofmann
und B. Weiß stammt die interessanteste Hypothese von Th. v.
Zahn (1884). Er plädiert für die Vorverlegung des Ereignisses
von Gal 2,11-14 vor das Jerusalemer Aposteltreffen wie heute
G. Lüdemann und O. Böcher.

Die folgende Generation wird in die Fraktionen der „Apologeten
" und der „Kritiker" gruppiert - der einzige Fall, wo die
sachlich bedingte Anordnung den Vorrang gegenüber der Chronologie
erhält. So kommen A. Ritsehl und H. v. Harnack vor
den Vertretern der historisch-kritischen Mittelposition zu stehen
. Bedeutsam ist, daß bei jenen die Apostelgeschichte als
Geschichtsquelle voll rehabilitiert wird und die Frage nach der
Bewertung des Aposteldekrets in den Mittelpunkt rückt. Die