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Ausgabe:

1993

Spalte:

591-593

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rogerson, John W.

Titel/Untertitel:

W.M.L. de Wette, founder of modern Biblical criticism 1993

Rezensent:

Reventlow, Henning

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 7/8

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keine sozial-anthropologische Theorie und deshalb keine wissenschaftlich
begründete soziologische Analyse von Gesellschaften
der Vergangenheit. Im Gegensatz dazu muß man Neus
Gebrauch von ethnologischen Daten für eklektisch erklären,
weil er kaum begründet, warum er auf bestimmte - aber isolierte
- anthropologische Auskünfte, die bald aus Afrika, bald aus
Polynesien oder sogar Südamerika herzuleiten sind, hinweist.
Ethnologische Vergleiche mögen bezaubernd aussehen, bereiten
jedoch oftmals dem Beobachter bei näherer Überlegung
eine Enttäuschung. Ein Beispiel dieses Problems: Laut Neu
waren die Heiratsverbindungen der Frühisraeliten exogamisch,
was für seine Auffassung der Entstehung von Verbindungen
zwischen den israelitischen Nomaden und den seßhaften Einwohnern
Palästinas absolut notwendig ist. Eine Analyse der
Heiraten in den Erzvätererzählungen deutet aber darauf hin, daß
die Heiraten unter den Israeliten - wie unter den modernen
Menschen des Nahen Ostens - am meisten von einer endoga-
men Heiratsideologie bestimmt wurden. Hier sind Analogien
aus anderen Gebieten wie Afrika oder Fernost ziemlich gleichgültig
, weil man dort gewöhnlich einer exogamen Praxis folgt.

Für Neus eigene Rekonstruktion der Geschichte der Frühisraeliten
gibt es deshalb viele Probleme, die leider von seiner völligen
Ablehnung, sich mit der Archäologie zu befassen, verstärkt
werden. Seine Verachtung der Archäologie, die unverständlich
ist, weil erst sie uns gezwungen hat, unsere Auffassung der
frühisraelitischen Geschichte grundsätzlich zu revidieren, kann
dazu führen, daß seinem Buch die erwünschte und verdiente
Verbreitung versagt bleibt.

Kopenhagen Niels Peter Lemche

Rogerson, John W.: W. M. L. de Wette. Founder of Modern
Biblical Criticism. An [ntellectual Biography. Sheffield:
JSOT 1992. 313 S., 2 Taf. 8° = Journal for the Study of the
Old Testament, Suppl.Series 126. Lw. £ 35.-. ISBN 1-85075-
330-X.

Die Unterüberschrift kennzeichnet gut den Charakter dieses
Buches über den bekannten/unbekannten Theologen aus der
ersten Hälfte des 19. Jh.s W. M. L. de Wette (1780-1849): Es
handelt sich um die bisher erste eingehende Untersuchung über
Leben und Werk dieses in mancher Hinsicht bahnbrechenden
Wissenschaftlers und Kirchenmannes, die sowohl seine privaten
Schicksale wie sein wissenschaftliches Werk auf verschiedenen
Gebieten alt- und neutestamentlicher Exegese sowie der
systematischen Theologie, aber auch populärwissenschaftliche
Veröffentlichungen und Romane einbezieht. John W. Rogerson1
war für diese Aufgabe gewiß besonders befähigt. Sein wissenschaftsgeschichtliches
Interesse am 19. Jh. hat er bereits hinlänglich
bewiesen2, und dieses Interesse schließt besonders
auch die für diese Periode zentral wichtige deutsche Forschung
ein. Denn de Wette-^ war, obwohl aus politischen Gründen aus
Deutschland vertrieben, seinen Wurzeln nach Deutscher und
blieb seiner Heimat in seinen theologischen und philosophischen
Denkansätzen immer verbunden. Nur der Zwang der Verhältnisse
hat seine mehrfach geplante Rückkehr nach Deutschland
verhindert. So aber wurde Basel in der demokratischen
Schweiz sein Refugium und er zu einem der wichtigsten Förderer
der Basler Universität, dem sie in gefährdeter Zeit mit ihr
Überleben verdankt4. Fast wäre er auch nach Straßburg gewechselt
, wenn ihn die Umstände genötigt hätten. Das ist ein
Hinweis auf die europäische Offenheit, die noch in den ersten
Jahrzehnten des 19. Jh.s herrschte.

Dem normal gebildeten Theologen ist de Wette vorwiegend
als Alttestamentier bekannt. Das hängt vor allem mit seiner Dissertation
zusammen', in der er das Deuteronomium erstmals
mit der Reform Josias 622 v.Chr. (vgl. 2Kön 22/23) in Verbindung
brachte. Vielleicht weiß man auch noch, daß er maßgeblich
zu der Erkenntnis beigetragen hat, der Epheserbrief stamme
nicht von Paulus.6 Wie vielfältig seine theologische Publikationstätigkeit
war, lernt man erst aus dieser Untersuchung7, die
viele heute ganz unbekannte Arbeiten de Wcttes wieder ins
Gedächtnis zurückruft.

Zunächst aber liest man diese Wissenschaftlerbiographie mit
dem ungetrübten Vergnügen an der Vergegenwärtigung des Lebenslaufes
eines Mannes, der mit den gesellschaftlichen Zuständen
und politischen Ereignissen seiner Zeit in vielfältiger
Weise verbunden und von ihnen abhängig war. Das spektakulärste
und für de Wette folgenreichste Ereignis war sicherlich
seine Entlassung als Professor an der Universität Berlin im Jahre
1819 aufgrund eines der preußischen Regierung und König
Friedrich-Wilhelm III. bekannt gewordenen Beileidsschreibens
an die Mutter des Studenten Karl Ludwig Sand nach dessen
Hinrichtung wegen Ermordung des populären Schriftstellers
Kotzebue (150-159). An Kotzcbues Ermordung werden sich
Kenner der Zeitgeschichte erinnern, weniger an de Wettes Verwicklung
mit deren Folgen. Noch weniger bekannt ist, in welcher
Weise die Folgen des preußischen Bannstrahls de Wette in
seiner weiteren Laufbahn verfolgten, so daß eine Bewerbung
auf eine Pfarrstelle in Braunschweig (vgl I801T.) und viel später
der Versuch der Rückkehr an verschiedene deutsche Universitäten
(Marburg; Jena) ebenfalls scheiterten. So erscheint Basel
und seine Universität, an die de Wette im Jahre 1822 berufen
wurde, nicht nur als persönlicher Rettungsanker für den verfolgten
Theologen, sondern auch als ein Bollwerk der Freiheit
in der Periode deutscher Restauration. Freilich wird auch Basel
nicht verklärt, und wir erfahren in zahlreichen Details von den
vielfältigen äußeren (vor allem finanziellen) und inneren
Schwierigkeiten, mit denen de Wette dort zu kämpfen hatte
(191 ff.).

Man erfährt viel über de Wcttes familiäre Verhältnisse: seine
drei Frauen, seine Kinder, die Personen, mit denen er in Briefwechsel
stand. De Weltes Korrespondenz ist leider nur in
Bruchstücken erhalten; das Vorhandene wird sorgfältig ausgewertet
.8

Für die Auslegungs- und Theologiegeschichte ist freilich vor
allem bedeutsam, was der Vf. über die Denkvoraussetzungen de
Wettes und den Inhalt seiner zahlreichen Schriften auszuführen
vermag. Im Hinblick auf de Wettes Studienjahre in Jena (1799-
1807) und seinen weiteren geistigen Werdegang (19-63) greift
der Vf. vor allem auf dessen Roman Theodor* zurück, den er
als autobiographisch versteht. Bis in welche Einzelheiten hinein
das berechtigt ist, darüber kann man natürlich streiten, obwohl
die Vermutung autobiographischer Züge des Romanhelden
nicht abwegig erscheint. Fast noch wichtiger für de Wettes spätere
Gesamteinstellung als Jena ist seine Zeil als Dozent in Heidelberg
(1807-1810), auf welche10 der Vf. die Bekanntschalt
und bis zu dessen Tod anhaltende Freundschaft de Wettes mit
dem Philosophen J. F. Fries (1773-1843) zurückführt. Wie Rogerson
immer wieder betont, hat die Friesschc Philosophie, insbesondere
sein anthropologischer Ansatz, der vor einem grundsätzlich
liberalen Denkhintergrund christliche Glaubensinhalte
ermöglichte, de Wcttes theologische Haltung bis zum Schluß
bestimmt, selbst als er in späteren Jahren sich weniger radikal in
manchen Dingen, insbesondere der Bibelkritik äußerte.

Im Durchgang durch die theologischen Werke de Wettes
unter denen die systematisch-theologischen Werke11 und die
das gesamte Neue Testament behandelnde Kommentarreihe12
seinerzeit sehr bekannt waren und heute weithin vergessen sind
- zeigt sich trotz gewisser Entwicklungen doch eine durchhaltende
Grundeinstcllung. De Wettes zugleich kritischer wie spi-
ritualistisch-ästhetischcr Ansatz1-^ erlaubte ihm eine weitgehen-