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Ausgabe:

1993

Spalte:

589-591

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Neu, Rainer

Titel/Untertitel:

Von der Anarchie zum Staat 1993

Rezensent:

Lemche, Niels Peter

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 7/8

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Geschöpf neben Geschöpfen sieht und zu partnerschaftlichem
Umgang mit der Mitwelt (so vielleicht statt des anthropozentrischen
Terminus Umwelt) anleitet.

2. Die Vorstellung eines „kosmischen Bundes" ist kein religiöses
Sondergut des biblischen Israel, sie gehört zu einem all-
gemein-menschheitlichen Fundus an Bildern und Ritualen.
Gerade deshalb erölTent sie heute die Möglichkeit zu einem
Religionen und Weltanschauungen übergreifenden Dialog über
die Rolle des Menschen in der modernen Welt.

3. „Neues Denken" allein reicht nicht, um die Schöpfung zu
bewahren. Der Bund "as a way of thinking about relationships
betwecn God and humankind" (172) braucht auch Rituale als
Ausdrucksformen: pcrl'ormative Äußerungen, "which not
merely describc or celebrate, but intend to effect something"
(68). Notwendig, so Murray, sind nicht einmal neue Rituale
als vielmehr ein umfassenderes Verständnis vorhandener, z.B.
der Eucharistie.

Die Stärke des Buches liegt nicht so sehr in der exegetischen
Behandlung von Details, sondern in der Ermutigung zu größerer
theologischer Vorstellungsfähigkeit: "Exegesis and theology be-
came too technical and remote, and the essential role of imagi-
nation in both scholarship and communication has often been
neglected" (162). Bei solchem Grundansatz ist man nie ganz
sicher, daß aus der Exegese schließlich nicht doch Eisegese
wird; andererseits lebt die Interpretation von Texten davon, daß
es ihr gelingt, deren gegenwärtige Bedeutsamkeit zu erweisen.

Berlin Walthcr Bindemann

Neu, Rainer: Von der Anarchie zum Staat. Entwicklungsgeschichte
Israels vom Nomadentum zur Monarchie im Spiegel
der Ethnosoziologie. Neukirchen: Neukirchener Verlag 1992.
350 S. 80. ISBN 3-7887-1347-X.

Der Vf. behauptet zwar, daß seine Abhandlung wegen ihrer
Einbeziehung von sozio-historischen Gesichtspunkten ein
Novum in der atl. Forschung darstellt. Dies ist aber kaum der
Fall, wenn man die Lage der Forschung nicht aus einem konti-
Qental-europäischen Blickwinkel, sondern vom Standpunkt der
internationalen atl. Forschung her betrachtet. Sowohl in Nordamerika
und England als auch in Skandinavien stellt die Verwendung
der Soziologie - oder Ethnosoziologie - nicht eine Ausnahme
dar; sie ist schon zu einem festen Teil der heutigen
Debatte geworden.

Die Grundlage, auf welcher Neu baut, ist von dem deutschen
Anthropologen Christian Sigrist vorbereitet, da Sigrist in seiner
Abhandlung Regulierte Anarchie (Frankfurt a.M. 1967) das
Spiel der politischen Kräfte, die in sog. „akephalen" Gesellschaften
(d.h. Gesellschaften ohne eine zentralisierte Zentralinstanz
.) tätig sind, beschrieben hat. Im Gegensatz zur allgemeinen
Meinung sind solche Gesellschaften nicht chaotisch organisiert,
sondern sie werden von einer ganzen Reihe von - meist - infor-
niellen Instanzen reguliert, wodurch das Leben der Menschen
trotz allem regelmäßig verläuft.

Laut Neu war das alte Israel ursprünglich eine segmentäre
nomadische Gesellschaft, deren Geschichte von der Einwanderung
bis zur Staatenbildung (ca. 1000 v.Chr.) verfolgbar ist.
Zwar deutet Neus Rekonstruktion der Landnahme auf einen
ziemlich komplizierten Prozeß hin, wobei sich die Menschen
von verschiedener Herkunft - teilweise Nomaden, teilweise
Splittergruppen der früheren seßhaften Gesellschaft, die als
/)(f/>/n/-Leute überlebten - miteinander verbunden haben. Was
die Israeliten betrifft, waren sie ursprünglich Nomaden, die von
den überlegenen midianitischen Nomaden zur Einwanderung in
Palästina gezwungen wurden. In Palästina hatten sie zunächst

versucht, eine nomadische Lebensweise zu bewahren, wurden
aber bald von Not und Bedürfnissen dazu gezwungen, seßhaft
zu werden. Das Geheimnis, das zur israelitischen Landübernahme
führte, war aber mit der israelitischen Sozialorganisation
verbunden, die segmentär, d.h. aus einer Reihe von Sippen -
oder lineages - gebildet war, die sich immer in neue Sippen aufspalteten
(d.h. „segmentierten").

Während der Periode nach der Landnahme - allgemein die
Richterzeit benannt, jedoch nach Neu als die akephale Periode
Knieis zu verstehen - haben sich die israelitischen Sippen zu
territorialdefinierten Ortsgesellschaftcn entwickelt, die auf der
Familie basierten. Die Familie, in deren Besitz sich auch das
Eigentumsrecht am Land befand, war als Grundbestandteil der
Gesellschaft aufzufassen. Der individuelle Besitz von Land
führte aber zu einer sozio-ökonomisehen Differenzierung in der
israelitischen Gesellschaft, die später zur Auflösung der seg-
mentären Gesellschaft beitragen sollte.

Die Staatenbildung der Israeliten wurde deshalb nicht nur von
äußeren Umständen herbeigeführt, sondern sie ist gleichzeitig -
und vielmehr - ein Ergebnis der inneren Entwicklung in der israelitischen
segmentären Gesellschaft, deren Schicksal während
der politischen Krisen von charismatischen Führern bestimmt
wurde. Aus der Institution des charismatischen Leiters
haben sich jedoch später dauerhaftere Instanzen entwickelt, die
dann dem zentralisierten Königtum den Weg gebahnt haben. Als
Schlußstein dieser Entwicklung kann aber die Ablösung der
Autonomie durch die lokalbestimmte Rechtsbesprechung mit
der königlichen Justiz betrachtet werden, wobei die anarchischen
„Instanzen" der Israeliten endgültig durch die des zentralisierten
Staates ersetzt wurden.

Am Ende der Abhandlung von Neu folgen einige Beobachtungen
, die mit den Relationen, bzw. der Dichotomie zwischen
dem zentralisierten Staat und der Gesellschaft in der jüdisch-
christlichen Tradition verbunden sind. Als Ursprung dieser ideologischen
Dichotomie muß laut Neu eben die frühe Selbständigkeit
der akephalen Ortsgemeinden gelten.

Die Arbeit Neus muß in vieler Hinsicht als ein Fortschritt in
der Forschung betrachtet werden, weil er konsequent mit einer
bestimmten und wohldefinierten Sozialtheorie arbeitet. Die Introduktion
der Theorien von C. Sigrist muß als besonders wichtig
gelten, weil Sigrist unter den nichtdeutschen Alttestament-
lern fast unbekannt ist.

Das Buch von Sigrist ist sehr straff gestaltet. Dies gilt aber
leider nicht für den Beitrag von Neu. Zunächst hat Neu eine Reihe
von Behauptungen aufgenommen, die entweder sehr problematisch
oder überhaupt nicht zu dokumentieren sind, z.B. die
Idee eines ursprünglichen midianitischen Gegensatzes zwischen
midianitischen und israelitischen Nomaden. Man fragt sich nur:
Warum sollten die midianitischen Nomaden der Randgebiete
Palästinas die Israeliten dazu gezwungen haben, in das Kulturland
Palästina einzuwandern? Es wäre doch viel natürlicher,
wenn sie selbst Palästina erobert hätten, um die Israeliten in die
unfruchtbaren Nebengebiete zu vertreiben! Dazu kommt, daß es
überhaupt nicht selbstverständlich ist, daß die Israeliten Nachkommen
einer nomadischen Gesellschaft waren. Augenscheinlich
ist es so, daß Neu fast automatisch Stämmegcsellschaften
als frühere nomadische Gesellschaften betrachtet, eine Auffassung
, die heute von den meisten Anthropologen wie auch Altle-
stamentlern längst aufgegeben worden ist. Im Alten Testament
läßt sich eine solche Auffassung nicht begründen, weil das Alte
Testament von israelitischen Nomaden überhaupt nicht redet.

Die Methode von Neu ist zwar anthropologisch konsequent:
jedoch fragt man sich, ob er seine Methode korrekt benutzt hat.
Es ist erstaunlieh, daß ein professioneller Soziologe die Bedeutung
von sog. "case studies" übersehen hat, weil solche Studien
von Ethnologen gewöhnlich dazu benutzt werden, die Grundlage
der Theoriebildung darzulegen. Ohne "case studies" gibt es