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Ausgabe:

1993

Spalte:

557-558

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schreiner, Martin

Titel/Untertitel:

Gemütsbildung und Religiosität 1993

Rezensent:

Wunderlich, Reinhard

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557

Theologische Literaturzeitung 1 18. Jahrgang 1993 Nr. 6

558

den). Zentral ist der zweite Abschnitt (32-71) mit der Überschrift
„Die staatliche Schule als .christliche Gemeinschaftsschule'".
Sechs elementare Ziele sollten leitend sein: „Achtung vor dem
einzigartigen Wert jedes einzelnen Kindes, Verantwortung für
das Leben jeder Art, Einsatz für eine humane Welt, Offenheit für
den Mitmenschen, Bereitschaft zur Versöhnung, Vertrauen in die
Zukunft" (39). Nicht nur das Beispiel „Schulgebet" (65ff.) zeigt,
daß die Realität der staatlichen Schulen eine ganz, andere ist: „Die
Ansprüche sind illusionär!" (62). Möglichkeiten und Grenzen des
Religionsunterrichts in staatlichen und nichtslaatlichen Schulen
werden im III. Abschnitt behandelt (72-85); demgegenüber zeigt
der Abschnitt IV (86-100) Überlegungen, wie im Fachunterricht
auch christliche Themen aufgegriffen werden können. Die Anmerkungen
(103-110) geben wichtige inhaltliehe Anregungen
und weiterführende Literaturhinweise. In diesem Zusammenhang
soll auf Heft 34 der EKD-Texte aufmerksam gemacht werden. Es
ist erstaunlich, wie es diesem relativ kleinen Band überzeugend
gelingt, die weitgespannte Problematik darzustellen und die Notwendigkeit
, ev. Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft einzurichten
, überzeugend zu begründen. Der Rezensent schließt sich
den Argumenten aus folgenden Gründen an: Politisch (eine Demokratie
verlangt ein vielgestaltiges Schulwesen), pädagogisch
(in einer geistig plurales Gesellschall müssen auch unterschiedlich
akzentuierte geistige Angebote in den Schulen gegeben werden
), didaktisch (die christlich relevanten Themen in den verschiedenen
Schulfächcm können nur noch überzeugend in ev./
kath. Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft vermittelt werden).

Erlangen Hans-Karl Beckmann

Schreiner, Martin: Gemütsbildung und Religiosität. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht 1992. 244 S. gr.8° = Arbeiten
zur Religionspädagogik, 8. Karl. DM 54,-. ISBN 3-525-
61458-6.

Diesterweg wünschte 1835 den deutschen Lehrern „das Gemüt
eines Hebel". Was verbirgt sich hinter dem schillernden Begriff
..Gemüt", der bis in unsere alltägliche Gegenwart immer
noch eine anscheinend nur schwer faßbare Stimmung zum Ausdruck
bringt (wenn nicht gar - nationalistisch verengt - deutsches
Wesen zu verkörpern sich anheischig macht oder - idyllisch
-kleinbürgerlich verengt - die sog. „Gemütlichkeit" gegen
den Rest der Welt immunisiert)? Der Religionspädagoge Martin
Sehreiner geht mit seiner 1991 von der Münchner theologischen
Fakultät angenommenen Dissertation dieser Frage in einer historisch
-kritischen Begriffsanalyse auf den Grund (26-156), um im
Anschluß daran in systematisierender Weise „Elemente eines
erneuerten Gemütsbegriffs" (157-164) abzugleichen mit gegenwärtigen
(entwicklungs-(psychologischen und psychoanalytischen
Forschungen vor allem zur Primärbeziehung und ihren
theologischen Implikationen (165-191). Seine dezidiert all-
gemein-religionspädagogische(weniger konkret religionsdidaktische
) Perspektivierung des Gemüts mündet schließlich ein in
die gegenwärtige Diskussion um Bildung und fragt nach möglichen
Zielen und Inhalten einer „Gemütsbildung", die „den Konvergenzpunkt
der Beziehung von Gott und menschlicher Welt"
(11) wachhält und ansteuert (192-208).

Seh. breitet eine lange (zeitlich den weiten Bogen von Meister
Eckhart bis etwa zur Mitte unseres Jh.s umspannende) Liste von
theologischen, philosophischen, pädagogischen und psychologischen
Belegstellen für die jeweils fachspezifische Verwendung
des Begriffs Gemüt aus, u.zw. in erhellender Weise nicht nur
anhand der bekannten Geistesheroen, sondern auch anhand der-
oftmals wirksameren - religiösen und pädagogischen „Praktikern
" vor allem des 19. Jh.s. Hält sich theologisch dabei die
„Richtung auf das Ewige" (Schleiermacher) durch - wenn auch

in wechselnder Akzentuierung von menschlichem /wi<?nleben
und weltlichen Außenbezügen - (57f.), so verblaßt die Dimension
des Transzendenten vor allem in den psychologischen Schriften
des I9./20. Jh.s, die jedoch den auch theologisch wertvollen
Begriff der Personganzheit - naturgemäß in verwirrender Vielfalt
unterschiedlicher Ansätze - als zentrales Thema auf- und
weitergeben (155f.). Philosophisch wurde das Gemüt als Oberbegriff
von Verstand, Gefühl und Willen im 18. Jh. (vor allem
bei Kant) in der Romantik zwar auf das Innenleben des Menschen
zurückgenommen, doch auch hier vollzieht sieh an der
Wende zum 20. Jh. der „Bezug des Gemüts zur Ganzheit
menschlichen Lebens" (88f.), der in Verbindung etwa mit der
Sittlichkeil auch die Pädagogik bestimmt (1321.).

Aus seinem gründlichen historischen Überblick, der allerdings
die differenzierte Einbindung in konkrete geistige, kulturelle
und soziale Referenzrahmen zur inhaltlichen Ausprägung
des jeweiligen Gemütsbegriffs vermissen läßt, macht Sch. „vier
Strukturelemente für ein neues Verständnis von ,Gemüt' fruchtbar
" ( 157): „Gemüt als personale Mitte des Menschen", als
„Nahtstelle zwischen Innenwelt und Außenwelt", „als ,Quelle'
von Empathie" und „als ,Ort' der religiösen Erfahrung" (4.
Kapitel). Zur humanwissenschaftlichen Stützung seines Ge-
mütsbegriffs in historischer Modifikation korreliert Sch. psychologische
Selbst-Konzepte, vor allem Guntram Knapps „vier
grundlegende affektive Bereiche" (170ff.) für die frühkindlichc
Entwicklung des Selbst (Aufgehobenheit; Versorgtsein; Vertrauen
; Anerkennung) mit dem theologisch-anthropologischen
Selbst-Konzept Wolfhart Pannenbergs, der die Ganzheit des
Selbst - über die Psychologie hinaus - nur in antizipatorischem
Ausgriff auf Gott im Gefühl für erfahrbar und verifizierbar hält.
Sch. möchte diesen theologischen Ge/w/j/sbegriff mit seinem
Gemütsbegriff erweitern, um das „Ineinander von rationalen,
emotionalen und sozial-pragmatischen Komponenten" für eine
„Brücke" zwischen Mensch und Gott zu gewährleisten. Gerade
wenn aber die soziale Welt so entscheidend für die Gemütsbildung
ist, wäre an dieser Stelle kritisch zu fragen, ob damit die
nicht-affektiven Anteile des Gemüts durch das Moment der
Ganzheit nicht dermaßen dominiert werden, daß gegenwärtiger
fragmentarisierter und pluralisierter Lebensvollzug kaum als
sich selbst begrenzender Ausdruck immer relativer Kreatürlich-
keit positiv in den Blick kommen kann. Sch.s Auseinandersetzung
mit den allgemeinen gemütsbildenden Rahmenbedingungen
am Beispiel der Medien (199-203) beklagt hauptsächlich
den Verlust von primären Wirklichkeitserfahrungen, ohne die ja
stets vermittelte Wirklichkeit auch als Chance religiöser Erfahrung
wahrzunehmen. Die Ermöglichung ganzheitlicher religiöser
Erfahrung als wichtigstes Ziel der Gemütsbildung (203)
dürfte aber doch nicht nur ausschließlich durch stilisierte Unmittelbarkeit
(Singen, Musizieren, Feiern, etc., 205), sondern auch
durch ein Ausprobieren von vermittelten Selbst- und Welt- Konzepten
und ihres impliziten Grenzbewußtseins zu erreichen sein.
Postmodern angesagt wären dann die gemütvollen schnellen
Wechsel, die Tugend der ,sveltezza' (Lyotard), die Ganzheitssorge
durch Grenzbewußtsein im Durchgang durch die Hetero-
genität der Welt (Welsch). Was hat das mit Gemüt zu tun?

An Johann Peter Hebel könnte man lernen, wie solches in der
Haltung einer zweiten Naivität, also in gemütlicher Vorläufigkeit
, christlich-gelassen zu praktizieren ist. An Martin Schreiner
aber kann man lernen, auf welchem hohen Niveau und mit welchen
präzisen begriffliehen Distinktionen (N.B.: die Anmerkungen
auf S. 191 fehlen drucktechnisch) das Gespräch um das Gemüt
als „Kernstück" christlicher Religiosität (208) auf allen
Ebenen zukünftig zu führen ist: „Das Gemüt des einzelnen öffnet
für die Teilnahme am Leben anderer" (190), es übt die Perspektivenübernahme
ein!

Bamberg Reinhard Wunderlieh