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Ausgabe:

1993

Spalte:

33-35

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weiß, Hans-Friedrich

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Hebräer 1993

Rezensent:

Hartmann, Lars

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 1

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endzeitliche wahre Israel sammeln wollte (s.o.) und seine Botschaft
mehr politisch-sozialen Hintergrund besitze, als die Texte
jetzt oberflächlich zeigen. Allerdings kommt Webb auch im letzten
Fall (349ff) nie über vage Vermutungen hinaus, die die Analogie
zu den Exoduspropheten bei Josephus bereits als Begründung
einsetzen, obwohl sie diese Analogie erst beweisen müßten.
Es erscheint darum weiterhin sinnvoller, bei der Gerichtsprophe-
tie des Täufers anzusetzen und den Täufer in die Linie von Arnos
bis losua ben Hanania (Josephus, bellum 6,304ff) einzuordnen.

Das Bild, das sich die Forschung vom Täufer macht, hat auch
immer Konsequenzen für das Verständnis Jesu. Darauf geht
Webb nicht ausdrücklich ein. Aber es ist klar, daß von seinem
Verständnis des Täufers her zu fragen ist, wie tief dann auch Jesu
Verkündigung in die soziopolitische Situation seinerzeit verflochten
ist. Wer hier zum Täuferbild von Webb Kontinuität vermutet
, kann das Thema Jesus als Revolutionär neu bearbeiten.

Kiel Jürgen Becker

Weiß. Hans-Friedrich: Der Brief an die Hebräer, übers, u. erkl.
15. Aufl., 1. Aufl. dieser Auslegung. Göttingen: Vandcnhoeck
& Ruprecht 1991. 801 S. gr.8» = Kritisch-exegetischer Kommentar
über das Neue Testament, 13. Lw. DM 220,-. ISBN 3-
525-51625-8.

Nachdem O. Michels Hebr.-Kommentar in der Meyer-Reihe
seil 1936 in mehreren bearbeiteten Neuauflagen die exegetische
Welt bedient hat. ist jetzt sein von dem Rostocker Neutesta-
mentler H.-Fr. Weiß verfaßter Nachfolger erschienen.

Das Werk ist m.E. ein würdiger Beitrag zu dieser klassischen
Reihe. Zeichen dafür, wie die Perspektiven der Exegeten sich
verschoben haben, ist es, daß hier Begriffe wie Rezeption, Wortfeld
und Syntagma auftauchen, die andeuten, daß der Blick des
Exegeten sich mehr auf den Text und den davon vermittelten
Sinn richtet als auf dessen Vorgeschichte, so wie man sie in tra-
ditions- und/oder motiv-geschichtlichen Untersuchungen darzulegen
versucht. In aller Stille scheint mir der Vf. zu dieser Richtung
zu neigen. Er läßt sicherlich die traditionsgeschichtlichen
Fragen nicht außer Acht, aber er behandelt sie relativ spärlich. So
hebt er mit Recht z.B. die Bedeutung des Denkens eines Diaspora
-Judentums - als „hellenistisch" bezeichnet - hervor, oft mit
Beispielen von Philon illustriert. Aber die Empfänger - sie sind
heidenchristliche, römische Christen der 80er oder 90er Jahre -
ihre Lage und die Botschaft an sie werden stets ins Auge gefaßt.

Vor jedem größeren Abschnitt fragt der Vf. nach dessen Stellung
und Funktion im Kontext, und immer wieder wird betont,
daß der Hebr eine auf einer christologischen Basis ruhende
Trost- und Mahnrede Uogos parakläseos: 13,22) darstellt. Dies
bedeutet auch, daß der Kommentator zu versuchen scheint,
nicht allzu schnell den Text als eine Sammlung theologischer
Sätze aufzufassen - und dies ist ihm auch gelungen.

Die Erwägungen des Vf.s sind sehr behutsam; er ist z.B. ziemlich
skeptisch gegenüber den Vorschlägen, vor allem seitens E.
Käsemanns, über einen gnostischen Hintergrund des Welt-, Menschen
- und Heilsverständnisses des Hebr sowie auch gegenüber
Versuchen, älteres Material zu rekonstruieren (eine Ausnahme ist
die Beurteilung der Liste von den Glaubenszeugen, Kap. 11). In
seinen Diskussionen verschiedener Deutungsmöglichkeiten endet
er oft mit einem „sowohl - als auch" (z.B. betreffs der Glaubensund
Hypostasis-Begriffe, 560ff.). Leise aber bestimmt verteidigt
er den Hebr-Verfasser gegen Anklagen schlechter Theologie -
man sollte ihm vielmehr das Recht zuerkennen, ein selbständiger
Denker zu sein, und ihn nicht mit den Maßstäben einer Paulus-
Rechtgläubigkeit messen (564ff, 77811). Auch ist der Kommentator
nicht bereit, dem Hebr sogenannte frühkatholische Tendenzen
vorzuwerfen; er verhält sich recht kaltsinnig gegenüber solchen
Werturteilen. Dies bedeutet nicht, daß er sachkritische
Fragen nicht stellt. Er erwähnt so die Gefahr, den Bußrigorismus
aus dem argumentativen Kontext des Hebr loszulösen,
wobei seine christologisch-soteriologische Grundbotschaft nicht
den Rigorismus umrahmen und bedingen darf. Auch zeigt er.
wie die Polemik des Hebr gegen den schattenhaften Charakter
der Vorschriften des Geset/es (10,1) den Weg zu einer antijüdischen
Wirkungsgeschichte des Textes bereitet hat.

Der Vf. will also offensichtlich der Wirkung des Textes auf
den Leser/Zuhörer nachgehen. So hebt er immer wieder das pa-
storale, ermahnende Anliegen des Verfassers hervor. Er baut
diese Ansicht, der an sich zuzustimmen ist. auf Beobachtungen
von der Struktur des Hebr.

Große Bedeutung für das Verständnis des Vf.s haben dabei (47f.) die
Ansätze 4,14-16 und 10,l9ff. Er nimmt an. sie leiten den zweiten bzw. dritten
Hauptteil des Briefes ein, von denen der /.weite Teil den christologischen
Grund der im dritten begegnenden Glaubensparänese legt. In seinen
die verschiedenen Abschnitte einleitenden Diskussionen nuanciert er den
vereinfachten Eindruck, den solch eine Einteilung geben kann. Aber es
scheint mir dem Text mehr gerecht zu sein. 4,14-16 nicht als einen Neuansatz
anzusehen, sondern vielmehr als Sätze, die das in 2.17-3.1 vorgestellte
Thema mit seiner paränetischen Folgerung aufgreifen und neu thematisieren
. In 3,1-10 wird dies argumentierend (gar) fortgeführt. 10,19ff. scheint
mir auf eine ahnliche Weise beurteilt werden zu können. Auch dort langt
m.E. kaum etwas Neues an, aber die Vff. fassen nach rhetorischer Sitte die
vorhergehende Argumentation zusammen, bevor sie in 12.29 zu Ende
geführt wird.

Wenn er die Struktur beurteilt, charakterisiert der Kommentator
auch gewisse Stücke als transitus, welches durchaus berechtigt
ist: moderne Leser vergessen allzu leicht, daß unsere
Abschnitt-Einteilung etwas den Alten Unbekanntes war; stattdessen
wurde der Text durch andere Signale gegliedert, u.a.
durch überleitende transitus. D.h., der Text wurde für das Ohr
und den Gedanken mehr als für das Auge gegliedert.

Der Vf. hat im Zusammenhang gewisse Vorbehalte gegenüber
den Vorschlägen von A. Vanhoye, der im Hebr ein intrikates Ineinander
von i'nc/usio-Mustern entdecken will. Mit Recht fragt
er, inwieweit die ursprünglichen Leser/Zuhörer solche Züge
durchschauen konnten (46); damit stellt sich aber auch die Frage,
inwieweit sie auch dadurch in ihrem Hören/Lesen/Verstehen
beeinflußt wurden. Wenn er trotzdem oft auf die von Vanhoye
angeführten inclusiones als Gliederungsmerkmale hinweist, habe
ich das Gefühl, daß ihnen bisweilen eine zu große Rolle zugeteilt
wird. Falls der Text ein Kommunikationsmittel ist (und so
scheint der Kommentator im Grunde den Hebr zu betrachten!),
beeinflußt er (hoffentlich gemäß seiner eigenen Aussageabsicht!)
seinen Leser und dessen Strukturieren und Verstehen des Textes
vor allem durch andere Mittel. Hier sind besonders Phänomene
wie Meta- und Abstraktions-Ausdrücke, direkte Anrede, textstrukturierende
Pronomina, andere Ersatzwörter und Adverbia zu
erwähnen, während eine inclusio allein eine relativ schwache
Wirkung hat. Für ein Strukturieren spielen auch mit der umgebenden
Kultur gegebene literarische Konventionen eine Rolle.
So fragt man sich, inwieweit der Hebr von Konventionen der
antiken Rhetorik geprägt worden ist. Dabei ist wieder die Kommunikationsperspektive
wichtig: denn eine Sache ist, ob der Verfasser
solchen Konventionen gefolgt ist, eine andere, inwieweit
der Leser diese Konventionen bewußt oder unbewußt in solch
einer Weise gekannt hat, daß sie seine Begegnung mit dem Hebr-
Text geprägt haben. Unser Kommentator scheint gegenüber solchen
Versuchen zur Analyse ziemlich reserviert zu sein (43);
jedoch nennt er die ersten Verse ein exordium und vergleicht
(m.E. wenig diskutabel - vgl. die Arbeit von W. Übelacker) den
ganzen Schlußteil, 10,19-13,25, mit einer peroratio. Aber vielleicht
könnte gerade die Art und Weise der Rhetorik (sowohl der
antiken als auch der sogenannten modernen), bewußt die Einwirkung
auf die Zuhörer/Leser ins Auge zu fassen, das Studium
dieser „Trost- und Mahnrede" fördern.