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Ausgabe:

1993

Spalte:

550-551

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Röhrig, Hermann-Josef

Titel/Untertitel:

Diaspora, Kirche in der Minderheit 1993

Rezensent:

Borggrefe, Friedhelm

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Theologische I.iteraturz.eitung 1 18. Jahrgang 1993 Nr. 6

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Es entspricht den biblischen Befunden und dem Rückbezug
auf die Reformation, daß die Gemeinde entschieden die Priorität
vor der kirchliehen Großorganisation erhält. Eickhoff spielt aber
bei aller - manchmal zur Gegenkritik herausfordernder - Kritik
an der Volkskirche keine ideale Ekklesia gegen sie aus. Die
Hauskirche schwebt ihm als zukünftige Gestalt der Volkskirche
vor. Die Verwandschaft mit der Ekklesia bei Eritz und Christian
A. Schwarz ist unübersehbar, andererseits fällt auf, daß deren
bekannte „Theologie des Gemeindeaufbaus" nicht erwähnt
wird. Mit diesen Autoren verbindet Eickhoff u.a. das Ziel, die
Pfarrerzentriertheit der Volkskirche zugunsten des Priestertums
aller Glaubenden zu überwinden.

Mit Recht hält E. die geistliche Motivation für entscheidend
dafür, ob diese notwendige Strukturveränderung gelingt. Die
Hälfte des Buches dient deshalb dazu, die biblischen und praktisch
theoretischen Grundlagen für eine „kraftvolle Frömmigkeit"
zu bedenken, ohne die keine verbindliche Mitarbeiterschaft
möglieh ist. Ganzheitlicher Gottesdienst ist die Quelle des geistigen
Lebens der einzelnen, aus der die Bereitschaft zum Dienst
fließt. Hierzu gehört die Haushalterschaft über die Zeit, Besitz
und (iahen. Sie entsteht weder durch Appelle noch durch Strukturveränderungen
, sondern durch den Geist, der Mensehen zum
Glauben und zur Liebe, zum neuen Leben des ganzheitlichen
Gottesdienstes bewegt. Um dieses Geschenk der Geisteswirkung
ist zu bitten. Die Bedeutung des Gebets wird immer wieder
betont, auch im Blick auf den Umfang mit der Zeit und bei allem
Planen der Gemeindepraxis.

Aus der verbindlichen Mitarbeitergemeinschaft soll die vollmächtige
Gemeindeleitung entstehen, in der die Presbyter entscheidende
Bedeutung haben. Als Zwischenschritt wird ein
presbytialer Arbeitskreis vorgeschlagen, dessen Mitglieder Verantwortimg
für einzelne Dienstbereiche der Gemeinde übernehmen
. Dieser verlängerte Arm des Presbyteriums ist ein sehr
intensiv zusammenarbeitender Kreis, der sich aullöst, wenn sich
ein „Presbyterium von wirklichen Leitern" gebildet hat, d.h.
eine Gruppe von Frauen und Männern, die bereit und befähigt
sind zu einem sehr zeitaufwendigen, geistig anspruchsvollen
Ann. Eickhoff nimmt Bohrens Vorschlag auf, daß die Kasuali-
en, der Konfirmandenunterricht, der Besuchsdienst und andere
wichtige Aufgaben den ehrenamtlichen Presbytern übertragen
werden. Die Pfarrer und Pfarrerinnen schulen die ehrenamtlieh
Mitarbeitenden und gewinnen Zeit für die intensive Vorbereitung
der Gottesdienste und zur theologischen Arbeit. Eickhoff
rechnet damit, daß in 7-10 Jahren eine solche Strukturveränderung
möglich ist.

Manfred Seitz weist in seinem Geleitwort darauf hin, daß
Eickhoff die grundlegende Bedeutung der Taufe für den Ge-
meindeaufbau anerkenn) und alles daran setzt, daß die Getauften
zum Glauben kommen. Wer die Taufe und die Menschen ernstnimmt
, muß auch den Aufruf zum missionarischen Gemeindeaufbau
ernstnehmen, für den Eickhoff ein fundiertes Konzept
und viele praktische Anregungen vorlegt.

Berechtigt ist die Kritik des Vf.s, daß die evangelistisehe Aufgabe
in der theologischen Ausbildung kaum vorkommt. Manche
Kritik an Pfarrern und Gemeinden wirkt undifferenziert, so daß
man mehr den leidenschaftlichen Praktiker der Evangelisation
als den sorgsam abwägenden Theologen vernimmt. Die Praxis
evangelistischer Rede scheint sich auch in einer streckenweise
störenden Redundanz niederzuschlagen. Weniger wäre mitunter
mehr. Unter historischem Aspekt wären einige Modifikationen
erforderlich. So wird aus Luthers Vorrede zur deutschen Messe
mehr herausgeholt als wirklich drinsteckt

Da der Vf. aus der österreichischen Diaspora kommt, ist verwunderlich
, daß er fast immer von großen Gemeinden ausgeht.
Minigemeinden kommen nicht vor. Ferner fällt auf, daß bei aller
Polemik gegen die Pfarrerzentriertheit andere hauptamtliche
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neben den Planern nur eine

Nebenrolle spielen. (Ein Jugendwart wird auf S. 38 durch einen
Druckfehler aus- statt angestellt!) Wichtig wären auch bei einem
so praktisch angelegten Buch Hinweise auf praktizierte Beispiele
des vorgelegten Konzeptes. Wo gibt es „Presbyterien von
wirklichen Leitern"' bereits in deutschen Landeskirchen?

Ungenügend berücksichtigt ist die Frage, was aus vielen
Menschen wird, die sich nicht in das Hauskirchenmodell einfügen
lassen. Andererseits darf der Gedanke an sie nicht davon
abhalten, daß wir uns in den Landeskirchen um „Gemeindeentwicklung
" bemühen, die in Gruppen mündiger Gemeindeglieder
Ciestalt annimmt. Vor allem sollte E. in der theologischen Zunft
und in den Kirchenleitungen breite Zustimmung in dem Ziel finden
, daß viele Nichtglaubende zum Glauben kommen und in
lebendigen Gemeinden geistliche Heimat finden.

Gutenberg bei Halle/S. Eberhard Winklei

Röhrig, Hermann-Josef: Diaspora - Kirche in der Minderheit.

Eine Untersuchung zum Wandel des Diasporaproblems in der
evangelischen Theologie unter besonderer Berücksichtigung
der Zeitschrift „Die evangelische Diaspora". Leipzig: Benno
1992. XLI, 315 S. gr.8« = Erfurter theologische Studien, 62.
DM 48,-. ISBN 3-7462-0549-2.

Das Jahr 1989 brachte in der alten DDR nicht nur die „Wende
" sondern auch - für die evangelische Diasporawissenschaft
interessant - ein Buch aus der Feder eines katholischen Theologen
über den protestantischen Diaspora-Begriff von der Reformation
bis zur Gegenwart. Die Studie geht aus von der Beobachtung
, daß „Kirche vielerorts zu einem Phänomen gesellschaftlicher
Minderheit geworden ist" (1). Der Autor benutzt als
Quelle für seine Analyse, die als Dissertation unter Prof. Dr. L.
Ulrich (Erfurt) angenommen wurde und das Imprimatur des
Dresdener Generalvikars Georg Hanke vom 1. September 1989
trägt, vornehmlieh die Zeitschrift „Evangelische Diaspora", die
seit 1919 in Leipzig und später in Kassel erscheint und „eine
ganz zentrale Rolle bei der Herausbildung einer wissenschaftlichen
Diasporakunde" spielt (I). Er versteht es als ..ökumenisches
Zeichen", daß die Aufarbeitung theologischen Nachdenkens
über Diaspora gerade von katholischer Seite geschieht.
Motiviert ist er sicherlich durch die Diasporasituation der katholischen
Kirche im Osten Deutschlands ebenso wie die Tatsache,
daß die evangelische Kirche von einer Mehrheitskirche in den
Stammlanden Luthers zu einer Minderheitskirche wurde,

Es gelingt dem Vf., die über 1200 Aufsätze der verschiedensten
Autoren in fünf Kapiteln übersichtlich zu gliedern und das
theologische Nachdenken über Diaspora im evangelischen
Raum klar darzustellen. Gern hätte man sich gewünscht, daß
eine kritische Aufarbeitung auch des katholischen Diasporabegriffs
geleistet worden wäre. Der Autor stellt jedoch lapidar fest,
daß „in den Dokumenten des EL Vatikanischen Konzils an drei
Stellen ausdrücklich die Diasporasituation erwähnt wird, ohne
daß allerdings das Wort .Diaspora' verwendet wird", und eher
beiläufig bearbeitet wurde. Und er wertet das theologische
Nachdenken im Bonifatiusverein bzw. dessen Umfeld als ein
Tun. das eher unter dem Stichwort „Diasporaseelsorge'' abzuhandeln
sei.

Evangelische Theologie trägt „den größeren Teil der Mühe,
das Phänomen Diaspora theologisch zu ergründen". Kirchengeschichtlich
wird der evangelische Diasporabegriff mit dem
Augsburger Religionsfrieden 1555 gesetzt: das Rheinland und
manche Städte (Magdeburg. Halberstadt, Bremen) haben früh
protestantische Minderheiten, die toleriert wurden. Konfessionswechsel
, Pietismus, Unionskämpfe, der Wiener Kongreß mit der
darauf folgenden Zusammenlegung katholischer und evangeli-