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Ausgabe:

1993

Spalte:

544-547

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Titel/Untertitel:

Sola scriptura 1993

Rezensent:

Veenhof, Jan

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Theologische Literatur/.eitung I 18. Jahrgang 1993 Nr. 6

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Konsesbemühungen seit Helsinki zu verstehen ist. Diese Einsicht
wird natürlich sogleich kritisch gewendet: Obschon Differenzierungen
geboten seien, die auch detailliert vorgeführt werden
, gelte doch für alle einschlägigen Dokumente von Helsinki
über den Malta-Bericht, die Leuenberger Konkordie, "Justifica-
tion by faith", bis hin zum Konvergenzpapier „Lehrverurteilungen
- kirchentrennend?" - prinzipiell, daß die eigentliche ökumenische
Konsensbasis bei ihnen nicht das „Hören auf das
Wort", sondern eben die „Erkenntnis der geschichtlichen Relativität
theologischer und dogmatischer Aussagen" (213) bilde.
„Der geistesgeschichtliche Prozeß und das Handeln der Kirche
geben dann gemeinsam ein neues Fundament der Einheit ab."
(ebd.).

Der „geistesgeschichtliche Prozeß... der Kirche" gibt jedoch
nur dann ein ökumenische Fundament ab, wenn er theologisch
gedeutet wird. Wie verkürzend solche theologischen Deutungen
des eigenen historischen Ortes sein können, zeigt der Vf. besonders
eindrücklich an den „theologischen Gesprächen und Dokumenten
vor und auf der IV. Vollversammlung des Lutherischen
Weltbundes 1963 in Helsinki" (121 IT.). Der hohe Grad analytischer
Präzision, der hier erreicht wird, wird jedoch laufend wieder
verspielt. Denn - seinem dogmatischen Fundamentalismus
verpflichtet - sieht sich Vf. genötigt, zusätzlich zu der historisch
-systematischen und insofern immanenten Analyse in seinen
Quellen permanent „eindeutige Verkürzungen" (199. vgl.
229) der Rechtfertigungsbotschaft gegenüber den lutherischen
Bekenntnisschriften, ja gegenüber „den Lehrentscheidungen
des 16. Jh.s" (206) insgesamt aufzudecken. Diese sollen unmittelbar
daraus folgen, daß im ökumenischen Prozeß aus der
..Rechtfertigung als Erkenntmsgnmdlage... ein Erkenntnis^-
genstand geworden" (128) sei.

Die inhaltlichen Verschiebungen, die als Auswirkung dieses
Treibens abgemahnt werden, sind vergleichsweise stereotyp.
Fast alle Dokumente kennzeichnen eine ..Ausblendung der Dialektik
von Gesetz und Evangelium" (304) zugunsten der „Vorstellung
einer prozessualen Überwindung der Sünde" (307, vgl.
314). Das Interesse an einer handlungstheoretischen Funktiona-
lisierung der Rechtfertigung (vgl. 203, 211, 303) lasse die „Frage
nach der Heilsgewißheit beinahe ganz aus dem Blick" (172)
geraten. „Ausblendung des Endgerichts" (162, vgl. 166, 172,
175f., 203, 211,214, 235, 303) ist Folge und Indikator dieses
Vorgangs.

Spätestens hier wird deutlich, wie sich fundamentalistische
Opposition gegen die Moderne und moderne historisch-systematische
Analytik bei der Interpretationsarbeit in die Quere
geraten. Nur daraus isl auch das Schlußresümec zu erklären, das
nach einem mehrhundertseitigem Verriß der ökumenischen
Verständnispapiere diesen plötzlich ein überraschend positives
Gesamtzeugnis ausstellt: „Die Untersuchung der Ergebnisse
dieser Diskussion im 16. Jh. und in den letzten 30 Jahren hat...
bestätigt, daß die Erfassung der Rechtfertigung als Grundgesehehen
kein konfessionelles Spezialanliegen ist, sondern vielmehr
die Grundlage für eine ökumenische Verständigung in
Sachen Rechtfertigung darstellt, die allerdings zumeist nur in
Ansätzen genutzt wird." (325) Hätte das Buch dies wirklich
gezeigt - wie sich nämlich für den ökumenischen Prozeß das
Thema der Rechtfertigung als der Intention nach metahistorisches
Fundament bewußt-historischer Verständigung nachweisen
läßt - dann wäre der Wirbel, den bereits das Manuskript
offenbar ausgelöst hat, in höchstem Maße gerechtfertigt.

Haslach Georg Ptleiderer

Si-hinid, Hans Heinrich, u. Joachim Mehlhausen |Hg.]: Sola
Scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen
Welt. Gütersloh: Mohn 1991. 374 S. gr.8° = Veröffentlichungen
der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie.
Kart. DM 45,-. ISBN 3-579-00179-5.

..Sola scriptura" - so lautete das Generalthema des VII. Europäischen
Theologenkongresses, der, auf Einladung des Bundes
der Evangelischen Kirchen in der ehemaligen DDR, vom 24.
bis 28. September 1990 von der Wissenschaftlichen Gesellschaft
für Theologie in Dresden durchgeführt wurde. Nach
sechs Jahren durch die jeweilige politische Großwetterlage zwischen
Ost und West mitgeprägter Vorbereitung konnte dieser
Kongreß schließlich unter völlig neuen Verhältnissen, buchstäblich
in der letzten Woche der eigenstaatlichen Existenz der
DDR, stattfinden.

Die Aktualität des Themas hat - wie H. H. Schnöd im Vorwort
sagt - durch die überraschende Änderung des politischen
Umfeldes an Bedeutung „kein jota" eingebüßt. Gerade in einer
Zeit des Umbruchs sieht sich die Kirche durch die Frage herausgefordert
, was sie denn als ihr Eigenes, ihr Spezifikum in
den Umgang mit den Problemen der Zeit einzubringen habe. In
der heutigen Situation Europas isl es für Kirche und Theologie
laisächlich wesentlich, sich auf das „kritische Potential" (so
Schmie!) des reformatorischen „sola scriptura" (im Polgenden
abgekürzt als „sola") zu besinnen.

Eine solche Besinnung ist umso dringlicher, weil das ..sola"
durch die Entwicklungen in der Neuzeit - in Kultur, Theologie
und Kirche - auch im evangelischen Lager seiner selbstverständlichen
Evidenz beraubt ist. Man kann die vielen Probleme
und Diskussionen mit den beiden Worten der Formel verbinden
. Ist es noch möglich, von „scriptura" zu reden im Sinne
einer [n-stanz, die offensichtlich als eine Einheit betrachtet werden
kann und als solche auch Autorität beanspruche' Und isl es
noch möglich, von „sola" zu reden, als ob diese Schrift sich
selbst auslegt und exklusive, bleibende Gültigkeit hat'.' Die vielen
bereits gewonnenen Erkenntnisse - ebenso wie die noch /in
Debatte stehenden Fragen - scheinen dem zu widersprechen.

Angesichts dieser Fragen ist das Erscheinen des vorliegenden
Bandes zu begrüßen. Er enthält nach dem Eröffnungsvortrag
von Bischof Johannes Hempel alle Vorträge des Dresdner Kongresses
: die vier Hauptvorträge und die insgesamt 21 Beiträge
in den Colloquia und Fachgruppen. Der Vielschichtigkeit der
Probleme entspricht die Verschiedenheit der Beiträge. In diesem
Rahmen muß ich mich auf einige Leseeindrücke und Hinweise
beschränken. Ich kann dem reichen Inhalt am ehesten
gerecht werden, wenn ich - in Übereinstimmung mit dem Aufbau
des Buches -den Stoff nach Fachgebieten vorstelle. Um das
Ganze zu charakterisieren, ist es empfehlenswert, mit der syste
manschen Abteilung anzufangen.

Grundlegende systematische Gesichtspunkte kommen bei Jörg
Baur zur Sprache. Er bietet eine sorgfältige Analyse der Hauptelemente
des Bibelverständnisses Luthers, die er in ihrer aktuellen
Relevanz beleuchtet. B. zeigt u.a., daß man bei Luther mündliches
Wort und Schrift nicht gegeneinander ausspielen kann.
Nicht nur die modernistische, sondern auch die orthodoxistische
Auffassung, die die Anerkennung des göttlichen Ursprungs der
Schrift ihrer Klarheit vorordnet, weicht s.E von Luther ab. Wegweisend
ist, was Luther über die „Finalität" des Wortes sagt. Das
Evangelium ist nicht auf die Empfänger der Vergangenheil
beschränkt, sondern für die ganze Welt in allen Zeiten bestimmt.
Es ist gerade der „gefühllose Sünder" (peccator insensatus). der
die Schrift hisforistisch objektiviert. Gegenüber der historischen
Kritik betont B„ daß das Universelle durch „das Nadelöhr" des
Partikularen läuft: Gott hat zuerst Israel angeredet.

Der holländische Dogmengesehichder Eginhard Peter Meije-
ring kontrastiert die Konzeption von Adolf von Harnack mit der