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Ausgabe:

1993

Spalte:

528-529

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Christentum und Demokratie im 20. Jahrhundert 1993

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische I .iteraturzeitung 1 18. Jahrgang 1993 Nr. 6

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Erweckten in mehrerer Hinsicht vorgearbeitet haben. Vor allem
das Zusammentreffen von endzeitlichem Bewußtsein, Erfahrungsreligion
und Sozietätsgedanken charakterisiert für Gabler
die Erweckung im europäischen und im amerikanischen Protestantismus
als eine eigenständige Bewegung, die zwar ohne die
Einflüsse von Aufklärung und Pietismus nicht zu verstehen ist,
sich aber dennoch von anderen Strömungen charakteristisch
unterscheidet.

Hartmut Lehmann greift eine besonders interessante Thematik
auf in seinem Beitrag: „Neupietismus und Säkularisierung.
Beobachtungen zum sozialen Umfeld und politischen Hintergrund
von Erweckungsbewegung und Gemeinschaftsbewegung
." Mit dem Begriff einer „progressiven Säkularisierung'"
des allgemeinen politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen
Lebens spürt Lehmann den Zusammenhängen zwischen
Säkularisierung und evangelischer Erneuerungsbewegung nach,
wobei er die Auseinandersetzung mit der Säkularisierung weiter
Bereiche des öffentlichen wie privaten Lebens als einen mehrdimensionalen
Prozeß versteht. Bei der individuellen wie kollektiven
Reaktion auf die Säkularisierung haben wir es mit
komplexen, von der Forschung noch keineswegs ausreichend
erhellten Zusammenhängen zu tun. Lehmann geht von der These
aus. daß die Säkularisierung in den letzten 200 Jahren „in
drei großen Wellen verlief, wobei jede dieser Wellen Reaktionen
auslöste, Auseinandersetzungen provozierte und auf je verschiedene
Weise von den Kreisen der Frommen verarbeitet
wurde" (42). Der erste Säkularisierungsschub fand in den Jahren
zwischen 1789 und 1815 statt, der zweite zwischen 1848
und 1878 und der dritte zwischen 1914 und 1945. Entscheidend
dabei ist, daß die wesentlichen frömmigkeitlichen Auswirkungen
jeweils phasenverschoben stattfanden. Die Auseinandersetzung
mit dem ersten Säkularisierungsschub zeigte sich vor
allem zwischen 1815 und 1848. die mit dem zweiten zwischen
1878 und 1914, und die mit dem dritten erst in den Jahren seil
1945. Für die Erweckungsbewegung der Jahre nach 1815 heißt
dies, daß sie mit Formen und Inhalten der Säkularisierung im
Zeitalter der Französischen Revolution in Beziehung gesetzt
werden muß, und der Neupietismus und die Gemeinschaftsbewegung
des ausgehenden 19. Jh.s mit Formen und Inhalten des
Liberalismus, Nationalismus und der industriellen Revolution
während der zweiten Säkularisierungswelle zwischen 1848 und
1878 verglichen werden müssen. Die Gemeinschaftsfrömmigkeit
der letzten vier Jahrzehnte tritt in Korrelation zu der dritten
Säkularisierungswelle zwischen 1914 und 1945. Die so genau
abgegrenzten Perioden haben natürlich ihre Vor- und Nachgeschichte
, so daß die Abgrenzungen nicht buchstäblich zu verstehen
sind.

Die Erweckungsbewegung muß in dieser Perspektive stark in
Auseinandersetzung mit der Aufklärung in ihren vielfältigen
geistigen und praktischen Ausformungen gesehen werden. Programm
und Ziel der Gnadauer Gründungsväter sind mehr an
den Erfahrungen der Säkularisierungswelle zwischen 1848 und
1878 orientiert als an der Verarbeitung der Erfahrungen ihrer
eigenen Zeit. Viele Einzelbeobachtungen, so z.B. die Auseinandersetzung
der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung mit der
Pfingstbewegung, werden auch unter sozialpsychologischen
Gesichtspunkten erörtert, was die theologisch oft etwas verfestigte
Diskussion durchaus zu beleben vermag. Überhaupt wirken
die Ausführungen Lehmanns sehr anregend, gerade wenn
sie im einzelnen zu Diskussionen herausfordern.

Jörg Ohlemacher, dem wir eine Monographie zur Geschichte
und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung verdanken
(APG Bd. 23, Göttingen 1986), gibt in seinem Beitrag eine
dezidierte Schilderung über die Anfänge der Gemeinschaftsbewegung
. Er sieht sie mit der ersten Gnadauer Pfingstkonferenz
im Mai 1888 beginnen und stellt Verlauf und Ertrag dieser
Konferenz dar. Für die Gemeinschaftsbewegung insgesamt

stellt er drei Charakteristika heraus: Sie sei vor allem anderen
eine Bibelbewegung gewesen, sowie eine eschatologischc und
eine plurale Bewegung (83).

Gerhard Ruhbach berichtet über „Die Erweckung von 1905
und die Anfänge der Pfingstbewegung". Die Anlange der
Gemeinschafts- und der Pfingsbewegung und ihre spannungsvollen
Beziehungen werden vor allem in den Jahren zwischen
1905 und 1909 dargestellt, dabei wird das Wirken von Heinrich
Dalimeyer und Jonathan Paul besonders deutlich. Das Verhältnis
zur Landeskirche und zur wissenschaftlichen Theologie war
in den einzelnen Verbänden der deutschen Gemeinschaftsbewegung
von Anfang an umstritten.

Noch zwei weitere Beiträge sind der Gemeinschalisbewe-
gung gewidmet: Johannes S. J. Berewinkel, „Zur Theologie der
Gemeinschalisbcwegung" und Dieter Lange, „Der Weg der Gemeinschaftsbewegung
von 1918-1933". Dabei wird deutlich,
daß die theologischen Väter Gnadaus vor allem von der heilsgeschichtlichen
Linie biblizistischer Theologie des 19. Jh.s geprägt
wurden, also von J. Ch. K. von Hofmann, K. A. Auberlen
und J. T. Beck. Die These von der pluralen Bewegung bewahrheitet
sich vor allem auch in der Stellung der Gemeinschaftsbewegung
zwischen 1918 und 193.3, die so unterschiedlich und
vielfältig ist, daß man sie kaum in allgemeingültige Kriterien
einordnen kann. Lange sieht den Weg der deutschen Gemein-
schaftsbewegung von 1918-1933 weitgehend ohne Erschütterungen
und Belastungen verlaufen. Die Kirche selbst besann
sich nach den politischen Umwälzungen auf die pietistischen
Kreise in ihren eigenen Reihen und versuchte sie als stabilisierenden
Faktor für ihre Ziele zu gewinnen (128f.).

Zwei abschließende Beiträge stehen nicht im Zusammenhang
mit dem Schwerpunktthema: Rüdiger Mack, „Franz Daniel
Pastorius - sein Einsatz für die Quäker" und Reinhard Breymayer
„,Anfangs glaubte ich die Bcngelische Erklärung ganz...'
Philipp Mathäus Hahns Weg zu seinem wiederentdeckten ..Versuch
einer neuen Erklärung der Offenbarung Johannis'" (1785).
Vor allem dieser letzte Beilrag anläßlich des 250. Geburtstages
von Philipp Mathäus Hahn bietet viele neue Aspekte.

Dieser Band des Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit" enthält
auch die Grußworte des verstorbenen Präses des Gnadauer Verbandes
. Kurt Heimbucher, sowie von Gerhard Schäfer, dem
Vorsitzenden der Historischen Kommission zur Erforschung
des Pietismus, und von Bischof Martin Kruse mit dem gewichtigen
Titel: „Kirche, Pietismus, Theologie - heute". Wie immer
wird der Band mit Rezensionen sowie der bewährten Pietismus-
Bibliographie abgeschlossen.

Neucndeltelsau Wolfgang Sommer

Greschat, Martin, u. Jochen-Christoph Kaiser [Hg.]: Christentum
und Demokratie im 20. Jahrhundert. Stuttgart-
Berlin-Köln: Kohlhammer 1992. XIV, 223 S. 8« = Konfession
und Gesellschaft, 4. Kart. DM 46,-. ISBN 3-17-01 1730-0.

Der Band enthält 1 1 Untersuchungen zum Thema, 3 Autoren
sind Theologen (Nowak, Loth und Cseri). Die Schriftenreihe
erstrebt einen „Diskurs der historischen Teildisziplinen... Ohne
die Eigenart kirchen- und konfessionshistorischer Prozesse zu
vernachlässigen, soll das Beziehungsgefüge zwischen ('linsten
tum und Gesellschaft besondere Beachtung finden" (VII). In
der Einleitung heißt es, „daß die nationalen Eigenheilen und
Prägungen in diesem 20. Jh. olfenkundig auch innerkirchlich
ein größeres Gewicht besaßen als die konfessionellen... Und
diese Tendenz setzte sich im wesentlichen trotz mancher entscheidender
Verschiebungen nach 1945 ungebrochen fort"
(IX). Die Beiträge bringen viele Details, die diese Sieht belegen
. Ein Beispiel sei genannt: Die Unterschiede zwischen der