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Ausgabe:

1993

Spalte:

526-528

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Pietismus und Neuzeit ; Jahrbuch 1989. Bd. 15. Schwerpunkt: Die Gemeinschaftsbewegung 1993

Rezensent:

Sommer, Wolfgang

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Theologische Literatur/.citung I 18. Jahrgang 1993 Nr. 6

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ratistisch zu bearbeiten, ist ein dringendes und zugleich lohnendes
Unterfangen. Die konfessionelle Selbstbezogenheit von
evangelischer und katholischer Kirche hat ihm lange hemmend
im Wege gestanden. Erstmals war es John S. Conway, der
durchgängig bikonfessionell arbeitete (Die nationalsozialistische
Kirchenpolitik 1933-1945. München 1969). Einige Jahre
später folgte Klaus Scholder mit seinem leider Torso gebliebenen
Werk „Die Kirchen und das Dritte Reich" (Bd. I 1977; Bd.
II 1985). Auch andere Arbeiten, welche die bikonfessionelle
Perspektive an Teilgegenständen ausarbeiteten, wären noch zu
nennen. Es ist bedauerlich, daß die Verschränkung der konfessionellen
Perspektiven gleichwohl noch nicht zu den Selbstverständlichkeiten
in der Zeitgeschichtsschreibung evangelischer
und katholischer Provenienz gehört. Die Registerbände zu den
„Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes" auf evangelischer
Seite (Hg. von Gertraud Grünzinger-Siebert, Göttingen
1984) und zu den Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte
" auf katholischer Seite (Hg. von Arnd Goertz, Mainz
1990) sind deshalb zu unfreiwilligen literarischen Denkmälern
einer konfessionell-historiographischen Selbstgettoisierung geworden
. Der bikonfesionell-komparatistische Ansatz des Buchs
von Georg May ist mit Nachdruck zu begrüßen. Ebenso ist die
Intention zu würdigen, die unterschiedlichen Verhaltcnsformen
der Katholiken und der Protestanten dem NS-Regime gegenüber
und umgekehrt die unterschiedlichen religionspolitischen Strategien
des Regimes im Blick auf die beiden Großkirchen und konfessionellen
Milieus aufzuweisen. Conway, Scholder u.a. haben
nach dem Maß ihrer Einsicht und Kraft dazu schon Wege
gebahnt. Es kann ja auch nicht der geringste Zweifel darüber
bestehen, wie different Katholizismus und Protestantismus nach
Organisationsaufbau, Entscheidungsebenen, Theologie, Ethik,
Politik- und Kulturverständnis in Deutschland seit dem Zeitalter
der Reformation und damit auch in den Jahren des Dritten Reiches
verfaßt gewesen sind. Das ist, wenn man so will, eine
Banalität. Sic mit der Heranziehung von zeithistorischen Autoritäten
wie M. Broszat und I. Kcrshaw zu untermauern, verleiht
ihr keinen höheren Wahrheitsgehalt. Soweit ich sehe, bestreitet
auch kein ernstzunchmender protestantischer Zeithistoriker, daß
der Zusammenprall von Kreuz und Hakenkreuz auf der Ebene
des Katholizismus heftiger verlaufen ist als auf der Ebene des
Protestantismus. Dafür gibt es viele Gründe. Andcrserseits sollte
der Vf. nicht mit einer Macht, die unversehens in Ohnmacht
umkippt, bestreiten wollen, daß Katholizismus und Protestantismus
in ihrem Pro und Kontra zum Nationalsozialismus und zum
Regierungsapparat des Dritten Reiches nicht selten auch verblüffend
identische Figurationen zeigten. Ich nenne nur das antimodernistische
und antidemokratische Syndrom, den Gouverne-
mentalismus sowie die Defizite beim Verständnis der Menschenrechte
.

Was der angestrengten Mühe der Forschung in inter- und
transdisziplinärer Perspektive wert wäre, nämlich eine von den
Organisationsstrukturen bis auf die alltagsgeschichtliche Basis
durchschlagende Komparatistik der Konfessionen unter den
Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur zu elaborieren
- das gerät in dem Buch von Georg May - leider! - zu einer antiprotestantischen
Polemik zugunsten eines lehramtlich fest normierten
und ewigkeitstreuen Katholizismus. „Angesichts des
nunmehr vorliegenden Materials" - so der Vf. in der Schlußse-
quenz seines Buches - „ist das Urteil gerechtfertigt, daß niemand
totalitären Regimes weniger Schwierigkeiten macht als
der Protestantismus. Der Protestant ist nun einmal stärker
irdisch eingestellt als der Katholik, selbstverständlich im Durchschnitt
gesehen" (630). Wäre das Buch nicht Seite um Seite
nachgerade durchtränkt von den antithetischen Theoremen des
Vf.S und läge seine polemische Attitüde (z.B.: Protestantismus
als ..Abfallbewegung von der katholischen Kirche" - 201) nicht
weit jenseits des seriösen Diskurses der Kirchengcschichte,

könnte man es evtl. als Einführungslektüre in die Geschichte
von Kreuz und Hakenkreuz zwischen 1933 und 1945 empfehlen
. So bleibt nur das Resümee: ein wichtiges Anliegen - die
historiographische Komparatistik - wird zugunsten apologetischer
Interessen verspielt.

Leipzig Kurt Nowak

Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren
Protestantismus. Im Auftrag der Hist. Kommission zur
Erforschung des Pietismus hg. von M. Brecht, F. de Boor, K.
Deppermann, U. Gäbler, H. Lehmann u. J. Wallmann. Bd. 15-
1989: Schwerpunkt: Die Gemeinschaftsbewegung. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht 1989. 304 S. 8°. Kart. DM
60,-. ISBN 3- 525-55887-2.

Im Jahre 1988 feierte der Gnadauer Verband für Gemeinschaftspflege
und Evangelisation e.V. seinen 100. Geburtstag.
Aus diesem Anlaß fand im März 1988 in Marburg-Wehrda eine
wissenschaftliche Tagung „Wurzeln und Werden der Gemeinschaftsbewegung
" statt, die gemeinsam vom Gnadauer Verband
und der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus
veranstaltet wurde. Die Veröffentlichung der Vorträge dieser
Tagung bildet den Schwerpunkt dieses Bandes. Im Vorwort
macht Martin Brecht mit Recht darauf aufmerksam, daß es mit
dieser Tagung zu einer bemerkenswerten und sehr zu begrüßenden
Zusammenarbeit einer Institution des gegenwärtigen Pietismus
und der wissenschaftlichen Pietismusforschung gekommen
sei.

Für die Erforschung der Erweckungsbewegung und ihrer
Theologie sowie des Neupietismus geben die hier zusammengefaßten
Beiträge wichtige neue Einblicke und Impulse. Ulrich
Gäbler unternimmt in seinem Vortrag: „Erweckung im europäischen
und amerikanischen Protestantismus" den noch kaum
unternommenen Versuch, den theologischen Gehalt der Erwek-
kung insgesamt zu beschreiben. An fünf Motiven bzw. Kennzeichen
macht er auf einige theologische Aspekte der Erweckung
in Europa und in den Vereinigten Staaten aufmerksam. Es soll
damit ein schärferes Bild der inhaltlichen Charakterisierung der
Erweckung im frühen 19. Jh. entstehen. Die Erweckten seien bei
einer Analyse der Zeitereignisse zu der Uberzeugung gelangt,
daß die Gegenwart endzeitliche Qualität habe und dies in der
Bibel vorhergesagt sei. Diese Geschichtsauffassung der Erweckten
bezeichnet Gäbler als „prophetisches Motiv". Die Erwartung
des Reiches Gottes, das „chiliastische Motiv", äußerte sich in
zwei Grundtypen: in einer premillenarischen und einer postmil-
lenarischen Konzeption (Wiederkunft Christi vor bzw. nach Eintritt
des Tausendjährigen Reiches Gottes). Mission und Evangelisation
gehen aus dem eschatologischen Bewußtsein der Erweckten
hervor. Durch die Evangelisierung der Welt und vor
allem durch die Bekehrung der Juden erwartete man in der post-
millenarischen Tradition den Anbruch des Tausendjährigen
Friedensreiches, das ein universales, weltweites Gottesreich
ohne nationale Schranken sein würde. Dieses „universalistische
Motiv" konnte aber leicht eine Säkularisierung der Reichsidee
und damit den Umbruch des Universalismus in unverholenen
Parlikularismus zur Folge haben. Das betrifft vor allem Philipp
Schaff, der Amerika die heilsgeschichtliche Führungsrolle
zuschrieb. Dem Wirken Gottes in der Geschichte entspricht sein
Eingreifen in das individuelle Leben. Das bezeichnet das „individualistische
Motiv", die Beschreibung der Gotteserfahrung
mit den Begriffen Wiedergeburt, Erweckung, Führung und
Erleuchtung. Schließlich sieht Gäbler in dem blühenden Vereinswesen
der Erweckungsbewegung, in dem sich die Sozietäts-
traditionen der Aufklärung fortsetzen, ein „soziales Motiv".
Hier stellt er die Aktivitäten der Herrnhuter heraus, die den