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Ausgabe:

1993

Spalte:

516-517

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stambaugh, John E.

Titel/Untertitel:

Das soziale Umfeld des Neuen Testaments 1993

Rezensent:

Theißen, Gerd

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 6

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der Evangelien in der Forschung geradezu kreisförmig verlaufen
sei. Hat das 19. Jh. sie als Biographien analog den griechisch
-römischen Parallelen betrachtet, so hat gerade die formgeschichtliche
Schule dieses Jh.s mit ihrer Unterscheidung von
Hoch- und Kleinliteratur und ihrer vorrangigen Orientierung an
den kleinen Einheiten eine solche Beziehung bestritten: die
Evangelien seien eine Gattung sui generis. Erst in den letzten
Jahren bzw. Jahrzehnten ist mit der redaktionsgeschichtlichen
Fragestellung und ihrem Interesse an dem Autor des Gesamtwerks
auch die Frage nach der Gattung desselben wieder aufgetaucht
, wobei die antike Biographie im Zentrum des Interesses
steht. Doch fehlt den neueren Versuchen literargeschichtlicher
Einordnung die überzeugende Durchführung: "...most propo-
sals have failed because of problems in methodology or genre
theory, as well as lack of a proper understanding of classical
literature" (105). Der Autor sucht beides zu vermeiden: In Teil
1 seiner Arbeit erörtert er Probleme literarischer Galtungstheo-
rie und bemüht sich, das Verständnis der Biographie in der griechisch
-römischen Welt zu fördern; in Teil 2 will er auf dieser
Basis ausgewählte Werke der Antike mit den Evangelien vergleichen
(25).

Zu diesem Zweck versucht er zunächst, die Gattungsmerk-
male zu benennen, die die antiken Biographien bestimmen.
Dabei gilt: Wie diese Merkmale gebraucht und kombiniert werden
, weist auf eine überkommene Erwartungshaltung hin - eine
Art mehr oder weniger unbewußten „Vertrag" zwischen Autor
und Leser; die Absicht des Autors wie die Erwartung des Lesers
treffen sich in bestimmten Zeichen, die das Instrument sind,
wodurch der Autor seine Absicht anzeigt und der Leser sie entschlüsselt
(111). Solche Merkmale sind: 1. Eröffnungssignale
des Werkes wie Titel, Eröffnungsformulierung, Vorwort 2. die
Herausstellung des beherrschenden Subjekts in der Darstellung.
3. äußere Merkmale wie Darstellungsweise, Länge des Werks,
Fragen der Struktur und des Aulbaus 4. innere Merkmale wie
Gebrauch von vorgegebenen Motiven, Stil, Stimmung, soziale
Verwurzelung des Werkes, Intention und erkennbare Absieht
des Autors.

Bei der Bestimmung konstitutiver Gattungsmerkmale antiker
Biographie unterscheidet der Autor zwischen den frühen griechisch
-römischen bioi, wozu er als Beispiele den Euagoras des
Isokrates, Xenophons Agesilaos, den Atticus des Nepos und
Philos Leben des Moses zählt, und den späteren Werken, wozu
er den Agricola des Tacitus, Plutarchs Jüngeren Cato, Suetons
Leben der Caesaren, den Demonax Lukians und Philostrats
Apollonius von Tyana rechnet. Die ersteren gehen den Evangelien
zeitlich voraus, die letzteren sind später geschrieben.

Aufgrund seines durchgeführten Vergleichs der Gattungsmerkmale
antiker Biographien und synoptischer Evangelien
kommt der Autor zu dem Schluß, daß eine klare Verwandtschaft
besteht. Einzelne Aspekte seien hier genannt. Bei der
Konzentration auf das Subjekt Jesus, das etwa die Hälfte aller
Verben in den Evangelien regiert, zeigt sich eine ähnliche Tendenz
wie in biographischen Schriften der Antike (196f.). Bei
der Inhaltsanalyse ergibt sich eine gleiche Betonung von Leiden
und Sterben der Hauptperson, was den jeweiligen Umfang der
Darstellung in Plutarchs Cato Minor, im Atticus des Nepos und
bei Philostrat angeht, so daß die umfängliche Passionsgeschichte
in den Evangelien nicht gegen deren Verständnis als bioi
spricht (1981.). Die chronologische Strukturierung ist in den
Evangelien zwar weniger stark durchgeführt als bei den Vitcn
von Generälen wie Agricola und Agesilaos, doch stärker als bei
der losen Folge von Anekdoten im Demonax, so daß das Urteil,
Markus habe kein biographisch-chronologisches Interesse,
kaum zutrifft (201 f.). Ähnlich wie der Demonax enthalten die
Evangelien eine Zusammenstellung von Geschichten, Aussprüchen
(pronouncement-type stories) und Reden. Das Fehlen
direkter Charakteranalyse und -entwicklung, das die Evangelien

angeblich von den Viten unterscheidet, gilt in gleicher Weise
auch für diese, insofern eine indirekte Charakterisierung durch
Taten und Worte erfolgt (2()5f.). Wie Markus kennen auch eine
Reihe von Biographien keine Geburtsgeschichte; ähnlich wie
dieser Evangelist legen sie Gewicht auf Darstellung und Deutung
des Todes ihres Helden (207f.). Die Zielsetzung der Evangelien
ist durchaus mit antiken Biographien zu vergleichen,
weil didaktische und apologetische Ziele dominieren (216f.).
Stil und soziale Herkunft der Evangelien sind zwar niedriger
anzusetzen als in den anderen Schriften; doch haben diese eine
ähnliehe ernsthafte und respektbetonte Grundstimmung. Der
Schluß ist: "The synoptic gospels belong within the overall genre
of bioi" (219). Entsprechendes gilt auch für (.las vierte Evangelium
(2381.).

Grundsätzlich wird man dem Urteil des Autors zustimmen.
Gleichwohl erheben sich kritische Fragen angesichts der methodischen
Vorgehensweisc. Allzu grob und pauschal wird der
Vergleich der Evangelien mit den antiken Biographien durchgeführt
. Es hätte nähergelegen, ein Evangelium, das MkEv etwa,
mit anderen antiken Texten in Verbindung zu bringen, um das
Entstehen der neuen frühchristlichen Literaturform zu klären,
als alle Evangelien in allzu gleichförmiger Weise zu behandeln.
Statistische Vergleiche über die Häufigkeit von Themen und
Topoi oder das Vorkommen dominierender Subjekte können
die eigentliche Interpretation der Texte nicht ersetzen.

Saarbrücken Ulrich B. Müller

Stambaugh, John E., u. David L. Balch: Das soziale Umfeld
des Neuen Testaments. Übers, von G. Lüdemann. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht 1992. 179 S. gr.8° m Grundrisse
zum Neuen Testament. Das Neue Testament Deutsch.
Ergänzungsreihe, 9. Kart. DM 34,-. ISBN 3-525-51376-3.

In den letzten 20 Jahren wurde die Sozialgeschichte des
Urchristentums im Rahmen der antiken Gesellsehalt intensiv
erforscht, so daß es naheliegt, eine zusammenfassende Darstellung
der wichtigsten Ergebnisse zu sehreiben. Dazu haben sich
ein klassischer Philologe und ein Neutestamentier zusammengetan
und ein erfreulich kurzes und verständliches Buch geschrieben
. Es beginnt mit einer Skizze der allgemeinen Geschichte
von Alexander bis Hadrian, behandelt die lokale Mobilität
in der Antike (und die christliche Mission), die antike Wirtschaft
, die gesellschaftliche Situation Palästinas (und die Jesusbewegung
), das Leben in den antiken Städten und die Ausbreitung
des Christentums in diesen Städten.

Das Buch will „Resultate moderner wissenschaftlicher Arbeit
" zusammenfassen (7). Der Prozeß, wie diese Ergebnisse gewonnen
werden, tritt zurück. Trotzdem wäre ein kurzer Abschnitt
über die Quellen nützlich gewesen - und vor allein über
die methodischen Probleme der Sozialgeschichte.

Eine Zusammenfassung von Resultaten wird man u.a. daran
messen, ob diese als ein Gesamtbild dargestellt werden, das in
sich klar strukturiert ist. Die Stärke des Buches liegt jedoch in
kleinen Mosaiksteinen, die locker aneinandergereiht werden -
manchmal in nicht ganz einsichtiger Reihenfolge. So wird die
Mission des Christentums vor seiner Entstehung in Palästina
behandelt. Daß gerade Sozialgeschichte gute Chancen hätte,
viele Einzeldaten zu integrieren, zeigt G. Alföldys: Römische
Sozialgeschichte 1975 31984, die seit 1985 in englischer Übersetzung
vorliegt, aber nicht verwertet wird.

Wenn der Wert des Buches in kleinen Einzelskizzen liegt, so
wird dieser Wert dadurch gemindert, daß viele Unrichtigkeiten
eingeflossen sind. Ich kann hier nur einige Beispiele nennen.