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Ausgabe:

1993

Spalte:

514-516

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Burridge, Richard A.

Titel/Untertitel:

What are the Gospels? 1993

Rezensent:

Müller, Ulrich B.

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 6

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die Literarkritik, soweit sie auf der Behauptung theologischer
Akzentverschiebungen basiert, zu unterminieren. So findet sich
auch bei B. die Bezeichnung von 13,1-4 als „Satzungetüm", um
einzelne Aussagen vor jedem und ohne jeden Versuch einer
Interpretation verschiedenen Händen zuzuweisen (25Q. So wird
ein Abschnitt als „in sich sehr spannungsgeladen" bezeichnet
(z.B. 31) - als wäre es die Aufgabe des Exegeten, Spannung aus
einem Text herauszunehmen. Auf wie unsicherem Boden man
sich hier bewegt, zeigt erfreulich klar die von B. gebrauchte Terminologie
. Ohne systematisch aufzupassen, habe ich auf S. 16-
60 über 5()mal Formulierungen gezählt wie: „vermutlich",
..möchte ich betrachten", „wirkt deplazierl", „wohl", „dürfte"
usw. Daß B. auch anders kann, zeigen seine Ausführungen zu
den „situationsgelösten" Redestücken 3,31-36 und 12,44-50, die
er bis auf I2,48b-50a dem Evangelisten beläßt und deren Funktion
in dessen Werk bestimmt (61-68). Der Einschätzung von
Joh 21 als redaktionell (11-14) stimme ich zu, da dieses Kapitel
von seinem „Verfasser selbst von den vorigen abgehoben" wird
(12).

Bei der Frage nach der Tradition des Evangelisten geht B. auf
den Prolog, die Wundergeschichten und den Passionsbericht ein
und bietet erwägenswerte Thesen (68-107). Daß der Evangelist
die Tradition von 1,17 „völlig umgedeutet" (78) und „nur völlig
gebrochen" (79) aufgenommen habe, wird jedoch nur behauptet.
Dazu mußten alle Stellen über Mose und die Tora im Johannese-
vangelium gründlich untersucht werden. Ebenfalls unbegründet
ist die Herunterspielung der Niedrigkeitsaussagen von 19,1-5
(lOlf).

Die dann vom Evangelisten bis zur dritten Redaktion entwik-
kelte Geschichte der joh Gemeinde(n) läßt noch einmal nach der
Berechtigung der lite rarkritischen Scheidungen zurücktragen.
Der Evangelist wird in einer Situation angesiedelt, in der sich
die mehrheitlich judenchristliche Gemeinde wegen Blasphemie
aus der pharisäisch-rabbinisch bestimmten Synagoge ausgeschlossen
erfährt. „Die Suche nach einem neuen integrierenden
Zentrum wird damit zur Überlebensfrage der Gemeinde" (124).
Der Evangelist antwortet darauf mit der „Exklusivität der Offenbarung
des Sohnes Gottes" (134). Das wird in Ausführungen
über den Prolog, 3,11-21 und 13,31-14,31 gezeigt und die Leistung
dieser Theologie so charakterisiert: „Abgerissene soziale
Bindungen bedeuten nichts gegen die Glaubensbeziehung zum
gesandten Sohn" (156).

Bei der 1. Redaktion wird dieselbe Situation vorausgesetzt
(158). Die „neuen Probleme", die „daneben... ins Blickfeld" treten
sollen, bleiben vage. Die Gemeinde sei „jetzt eine auch
äußerlich vom xöou.oc; geschiedene Größe..., deren Binnen-
slruktur beschrieben werden kann" (158). War sie vorher also
nur innerlich geschieden, wo doch nach B. der Evangelist sie
schon gelehrt habe, „die Trennung von der Synagogengemeinde
als endgültig zu begreifen" (156)7 Und wieso soll diese von der
Synagoge getrennte Gemeinde keine beschreibbare Binnen-
struklur gehabt haben? Den Evangelisten als ekklesiologisch
unterbelichtet hinzustellen, ist nur möglich, wenn man ihm die
einschlägigen Texte abspricht. Die Trennung zwischen ihm und
dem I. Redaktor erscheint mir äußerst künstlich. „Red. 1 gibt
seine Antwort ganz auf der Linie des Evangelisten", wende aber
die bei diesem „auf den einzelnen Glaubenden bezogenen Aussagen
ekklesiologisch" (168).

Die Situation beim 2. Redaktor ist immer noch dieselbe, sogar
verschärft um „die Erfahrung von Martyrien" (173); die Konfrontation
habe „bedrohliche Züge angenommen" (184). Aber
schon dem Evangelisten ging es nach B. um die „Überlebensfrage
der Gemeinde" (124) und ebenso „Red. I um das Überleben
der Gemeinde" (167). Die Unterscheidung der Situation ist also
wieder künstlich. Sachlich seien „die Verbindungslinien zum
Evangelisten... mit Händen zu greifen, aber Red. 2 reinterpretiert
an zwei ganz entscheidenden Punkten" (178). Was dazu ausgeführt
wird, ist allerdings alles andere als klar und Uberzeugend.
B. will „erkennen, daß der Konflikt um die Konsequenzen der
christologischen Grundaussagen des Evangelisten entbrannt
war", gesteht aber selbst zu, daß es dafür nur „spärliche
Anspielungen bei Red. 2" gibt (185).

Auch bei „Red. 3" ist „eine einschneidende Veränderung im
Verhältnis zur Umwelt... nicht anzunehmen" (186). Allerdings
spielt diese vorausgesetzte Situation bei der Charakterisierung
von „Red. 3" - wie ja auch schon bei „Red. 2" - keine Rolle
mehr. Den Anlaß für „Red. 3" sieht B. in einem „Bruch innerhalb
der Gemeinde" (187). Mir scheint, daß aus den Briefen
Gewonnenes hier unter der Hand in die Exegese des Evangeliums
einfließt. Das gezeichnete Bild bleibt recht verschwommen.

Die Briefe bespricht B. - m.E. zu Recht - in der traditionellen
Folge. Er zeigt an der Form des ersten, daß sein Verfasser ihn
..als authentischen Kommentar /um Johannesevangelium" verstanden
hat (2()2f). Das Schreiben spiegelt einen innergemeindlichen
Streit wider, wobei die „Gegner" wohl „noch eine Gruppe
innerhalb der sehr locker organisierten joh Gemeinde(n)" bildeten
(205). Alle Grundzüge ihrer Theologie ließen sich ..als Radikalisierungen
und einseitige Interpretationen des Ansatzes des
Evangelisten verstehen" (206). Das wird knapp ausgeführt und
die theologische Auseinandersetzung des Vis. mit ihnen anhand
einiger Texte skizziert.

Der zweite Brief zeige einen relativen Abschluß der in Gang
gekommenen Prozesse. B. stellt eine erhebliche Differenz in der
Art der Auseinandersetzung fest; der Presbyter setze Autorität
ein. Zu 2Joh 10 wird diagnostiziert, „die Strukturen der Welt"
hätten die Gemeinde „eingeholt". (Gegen meine eigene „Anklage
" gegenüber 2Joh 10 nannte mir ein BK-Mitglied eine mögliche
historische Analogie, die mich überzeugt hat: Zunächst habe
man noch mit den „Deutschen Christen" diskutiert und sieh mit
ihnen auseinandergesetzt; aber dann habe es sich gezeigt, daß
jedes weitere Reden zwecklos war und nur noch klare Grenzen
gezogen werden mußten.) Den dritten Brief versteht B. mit Tae-
ger(ZNW 1987). der in Diotrephes einen „konservativen Rebellen
" erblickte, der gegen den Autoritätsanspruch des Presbyters
„auf das bruderschaftliche Selbstverständnis der joh Gemeinde
pochte" (229).

Schließlich versucht B., die Briefe mit der vorher entwickelten
Gemeindegeschichte in Beziehung zus setzen. Er ordnet sie
zwischen die 2. und 3. Redaktion ein (234).

Wenn es sich nun so verhält, daß im Evangelium die Auseinandersetzung
mit dem Judentum dominant ist, daß die Briefe
davon aber „nichts mehr spüren (lassen)" (234), sondern von
einer innerjohanneisehen Kontroverse geprägt sind und daß
schließlich Joh 21 weder von der einen noch von der anderen
Situation etwas erkennen läßt, wäre dann nicht B.s joh Entwick-
lungslinie grob in folgender Weise zu modifizieren:

- Joh 1-20: Konflikt mit dem pharisäisch-rabbinisehen Judentum
,

- l-3Joh: innerjohanneische Spaltung im Streit um die gemeinsame
Tradition,

- Joh 21: Einbringung der joh Tradition in die Gesamtkirche?

Bochum Klaus Wengst

ßurridge, Richard A.: What are the Gospels? A Comparison
with Graeco-Roman Biography. Cambridge-New York-Port
Chester-Melbourne-Sydney: Cambridge University Press
1992. XIV, 292 S. 8« = Society for New Testament Studies.
Monograph Series 70. geb. £ 35.-. ISBN 0-521-41229-3.

Die Arbeit stellt die Überarb. Fassung einer theologischen
Doktorarbeit an der Universität Nottingham dar. Sic geht von
der Feststellung aus, daß die gattungsgeschichtliche Sichtweise