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Ausgabe:

1993

Spalte:

512-514

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bull, Klaus-Michael

Titel/Untertitel:

Gemeinde zwischen Integration und Abgrenzung 1993

Rezensent:

Wengst, Klaus

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Theologische Literaturzeitung 1 18. Jahrgang 1993 Nr. 6

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der großen Gemeindebriefe steht noch aus und wird die in diesem
Band angedeuteten Linien des Verständnisses gewiß noch
kräftiger ausziehen.

Zunächst werden einige methodische Überlegungen angestellt
, für die Christiaan Beker noch einmal sein bekanntes, anregendes
Schema von Coherence und Contingency beisteuert.
Als Coherence des paulinischen Evangeliums wird danach die
apokalyptische Interpretation von Tod und Auferstehung Jesu
Christi begriffen (18). Die darin ausgesprochene Wahrheit des
Evangeliums wird dann in der jeweils als Contingency charakterisierten
Anrede an die einzelnen Gemeinden konkretisiert
und aktualisiert. Demnach gibt es eine Mitte paulinischer Theologie
, die jedoch in den verschiedenen Briefen auf unterschiedliche
Weise in die aktuelle Situation hineingesprochen und auch
abgewandelt wird.

Die Mehrheit der Mitarbeiter möchte jedoch nicht von einem
derartigen Schema ausgehen, sondern Brief für Brief betrachten
, um aus dem einzelnen Schriftstück dessen theologische
Aussagen zu erheben. Die dabei gewonnenen Ergebnisse sollen
dann zu einem Bild von der paulinischen Theologie zusammengetragen
werden, das nicht von einer vorgefaßten systematischen
Konzeption bestimmt sein, sondern aus den einzelnen
Bausteinen zusammengesetzt werden soll.

Die einzelnen Beiträge zeigen nun aber, daß der Versuch
einer vermeintlich nicht von vorgefaßten Voraussetzungen
abhängigen Interpretation auf erhebliche Schwierigkeiten stößt.
Denn wie sind die einzelnen Briefe zu bewerten? Wo sind sie
chronologisch einzuordnen? Und läßt sich ihre Authentizität
bzw. ihre Einheitlichkeit zweifelsfrei beurteilen? Die Meinungen
gehen nicht unerheblich auseinander - sowohl hinsichtlich
der Einheitlichkeit des 1. Thessalonicherbriefes wie auch des
Philipperbriefes, vor allem aber auch in der Frage, ob der 2.
Thessalonicherbrief als paulinisch oder nachpaulinisch anzusehen
ist. Es werden jeweils Referat und Korreferat nacheinander
dargeboten, wobei das zweite auf das erste Bezug nimmt und
meist eine abweichende Position bezieht. Die Auseinandersetzungen
werden in angelsächsischer Fairness vollzogen, doch
bleiben die unterschiedlichen Urteile stehen und werden nur in
schwachen Ansätzen zu einer gemeinsam vertretenen Beurteilung
zusammengeführt.

Die Hgn. unternimmt den vorsichtigen Versuch, so etwas wie
eine zusammenfassende Darstellung der in den beiden Thessa-
lonicherbriefen entfalteten Theologie zu entwerfen. Um die
unterschiedlichen Gesichtspunkte einigermaßen zusammenbringen
zu können, muß sie sich jedoch auf sehr allgemeine
Feststellungen beschränken, indem sie - von dem Eingangsgruß
der Briefe ausgehend - die Botschaft von einer "peaceful altitu-
de or existence" aufzeigen möchte, die jeweils im Kontrast zu
"a State of disorder or turmoil" steht (79). So allgemein gehaltene
Züge können aber schwerlich die spezifischen Aussagen der
Dokumente hinreichend wiedergeben.

Nach Stanley K. Stowers soll der Philipperbrief als Freundschaftsbrief
verstanden werden, der "a series of positive and
negative models of how friends behave versus how enemies
behave" enthält (117), wobei Christus "serves as a Warrant and
model for the kind of friendship which constitutes his Community
" (120). Zur Thematik des Galaterbriefes entwickelt James
D. G. Dunn die These, "that the Antioch incident was a decisive
factor in the development of Paul's understanding of the gos-
pel" (144). Dieser Ansicht widersprechen Boverly Roberts
Gaventa und J. Louis Martyn, indem die Christologie als Ausgangspunkt
der Argumentation bezeichnet wird, so daß sie und
nicht die Gesetzesthematik den zentralen Gesichtspunkt für die
Darlegungen des Apostels abgibt (177 u.ö.).

Wie soll angesichts überaus unterschiedlicher Beiträge der
Versuch einer Synthese aussehen? Wird auf der einen Seite der
Vorschlag gemacht: "The history created by the gospel's victo-

rious march through the world may prove to bc a consistent
Pauline proprium from 1 Thessalonians to Romans" (174 Anm.
32), so dominiert die Neigung, mit Hilfe eines heilsgeschichlli-
chen Rahmens die Denkweise des Apostels zu erlassen. Robin
Scroggs ist der Ansicht: "To rethink Paul's theology within the
strueture of salvation history does the least violence, I believe,
to his own conscious thought processes." (216)

Diese Meinung wird aber keineswegs von allen Teilnehmern
am gemeinsamen Disput geteilt. Zwar wird am Ende von David
J. Lull noch einmal eine heilsgeschichtliche Konzeption als
bestimmender Rahmen paulinischen Denkens entworfen (2641.).
Doch bleiben viele Fragen offen, die möglicherweise in einem
folgenden Band wieder aufgenommen und vertieft werden.

Ob auf dem eingeschlagenen Weg wirklich tragfähige Ergebnisse
gewonnen werden können, die zu einer überzeugenden
Darlegung der paulinischen Theologie fuhren, muß sich erst
noch erweisen. Die verschiedenen, teilweise gegensätzlichen
Ansichten, die von den einzelnen Autoren vorgetragen werden,
sind ein Spiegelbild des allgemeinen Standes der Diskussion. In
den Anmerkungen sind in beachtlicher Breite neuere und aller-
neueste Arbeiten - vornehmlich aus der angelsächsischen Welt

- berücksichtigt. Hierdurch sowie durch eine ausführliche
Bibliographie, die am Ende des Bandes steht, wird der Leser
mit reichhaltigen Informationen zur eigenen Urteilsbildung
versehen.

Eigentümlicherweise werden die paulinischen Selbstzeugnisse
aus Gal 1 und Phil 3 kaum herangezogen, um von daher die
Frage nach einer Mitte der paulinischen Theologie zu beleuchten
. Man hat den Eindruck, daß man unter allen Umständen aus
dem großen Schatten heraustreten wollte, den Luthers Paulusinterpretation
bis heute auf jeden Versuch wirft, die Theologie
des Apostels zu verstehen. Doch nach aufmerksamer Lektüre
der mit Fleiß und Sorgfalt gefertigten Studien verspürt der Rez.

- und vielleicht auch mancher Leser mit ihm - das dringende
Verlangen, sich erneut Luthers Auslegung der paulinischen
Theologie zuzuwenden.

Göltingen Eduard Lohse

Bull, Klaus-Michael: Gemeinde /wischen Integration und
Abgrenzung. Ein Beitrag zur Frage nach dem Ort der Joh
Gemeinde(n) in der Geschichte des Urchristentums. Frank-
furt/M.-Bern-New York-Paris: Lang 1992. XV, 257 S. 8» =
Beiträge zur biblischen Exegese und Theologie, 24. Kart.
DM 77,-. ISBN 3-631-44135-5.

Die im WS 1990/91 angenommene Rostocker Dissertation
von B. stellt sich eine große Aufgabe. Es geht eigentlich nicht,
wie der Untertitel sagt, um den „Ort der joh Gemeinde(n) in der
Geschichte des Urchristentums", sondern vielmehr um eine
Geschichte der joh Gemeinde(n). Diese Aufgabe ist m.E. angesichts
der Forschungslage kaum lösbar. In Anbetracht dessen
hat B. für eine Erstlingsarbeit Beachtliches geleistet. Ich verhehle
allerdings nicht, daß ich gegenüber der Basis seiner
Rekonstruktion - einer Literarkritik des Johannesevangeliums -
tiefe Skepsis hege. Er meint, nicht weniger als fünf verschiedene
Schichten voneinander unterscheiden zu können: die vom
Evangelisten benutzte Tradition, den Evangelisten selbst - als
der gilt ihm, wer „als erster die Wundertradition mit der Passionsüberlieferung
verbunden und beiden Traditionssträngen die
joh Gesandtenchristologie aufgeprägt hat" (7) - und drei aufeinander
folgende Redaktionen. B. betont zwar, daß diese Redaktionen
die ihnen je vorliegende schriftliche Tradition in neuer
Situation „reinterpretieren" und so „die Endform...eine sinnvolle
Einheit bildet" (61), aber eine dieser Einsicht entsprechende
Interpretation unternimmt er nicht. Sie wäre ja auch geeignet,