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Ausgabe:

1993

Spalte:

475

Autor/Hrsg.:

Kreß, Hartmut

Titel/Untertitel:

- 486 Autonomie in der Ethik 1993

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475

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 6

476

Hartmut Kreß
Autonomie in der Ethik

Zur Problematik und zum Gehalt eines ethischen Leitbegriffs

„Autonomie" ist seit L Kant ein tragender Leitgedanke der
Ethik, der die Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung, Freiheit
des handelnden Menschen unterstreicht. Der weitreichende
Gehalt des Autonomiebegriffs zeigt sich an seiner ausgeweiteten
und auch übertragenen Verwendung. So wird in der medizinischen
Ethik die Patientenautonomie oder juristisch die Privatautonomie
bedacht; als „autonome Wirklichkeiten" im Menschen
werden tiefenpsychologisch die Psyche und das Gewissen1
oder religionsphilosophisch die religiöse Ich-Identität2
thematisiert. Die Strittigkeit und mögliche Ambivalenz von
Autonomie als Schlüsselbegriff neuzeitlicher Ethik resultieren
freilich daraus, daß die Handlungsautonomie des Menschen
vereinseitigt und überdehnt werden kann, z.B. zum Subjektivismus
oder Anthropozentrismus. Angesichts gegenwärtiger ökologischer
und technologischer Krisensymptome ist Hans Jonas
sogar zu dem Urteil gelangt, heute sei eine neue Heteronomie,
ein Bestimmtwert/en des Menschen durch das ihm vorgegebene
Sein der Natur vonnöten.^ Vor allem aber in der katholischen
Morallehre ist die Frage nach „Autonomie" höchst strittig, insofern
die autonome Moral einerseits und die am Lehramt ausgerichtete
sog. Glaubensethik andererseits einander kontrovers
gegenüberstehen. Die autonome Moral betont die sittliche Vernunft
des einzelnen Menschen, aufgrund derer er selbst, auch
losgelöst vom Lehramt, sittlich urteilsfähig ist. Dagegen stellt
die Glaubensethik die Gewissensbindung des Gläubigen cm das
Lehramt heraus.4 Die katholische Debatte zum Autonomiebe-
griff ist nun aber auch für die evangelische Ethik beachtenswert
- schon allein aus Gründen des ökumenischen Interesses -,
sodann besonders deshalb, weil die evangelische Theologie
ihrerseits nur außerordentlich begrenzt den für neuzeitliche
Ethik so bedeutsamen Leitbegriff der Autonomie thematisiert
und reflektiert hat. Ein an I. Kants Autonomieverständnis sich
anschließendes, deontologisches Ethikkonzept findet sich auf
protestantischer Seite v.a. bei Wilhelm Herrmann5, wohingegen
andere evang.-theologische Überlegungen den neuzeitlichen
Autonomiegedanken als Widerspruch zur Rechtfertigungslehre
werteten6 oder ihn auch in die theologische Erwählungslehre
einbanden.7 Bemerkenswert ist indes, daß schon Kant mit dem
Autonomiebegriff keineswegs nur - subjektivitätstheoretisch -
die eigene sittliche Verantwortung des Menschen thematisierte,
sondern zugleich einen materialethischen Gedanken ins Spiel
brachte: Kant zufolge gehören Autonomie und Menschenwürde
bzw. Menschenrechte untrennbar zusammen.x Daß - gerade in

' Vgl. C. G. Jung, Das Gewissen in psychologischer Sicht, in: Mensch
und Kultur, Grundwerk Bd. 9, Olten/Freiburg 1985, (90-109) 94, 99.

2 Vgl. M. Buher, Der Jude und sein Judentum, Köln 1963. 11.

3 Vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979, 170.
Vgl. auch Jonas' Hypothese zur Autonomie der Natur selbst: ders., Materie,
Geist und Schöpfung, Frankfurt/M. 1988 (st 1580), 23.

4 Z.B. A. Laun, Das Gewissen, Innsbruck/Wien 1984. 112f. - Zur Gewissensbindung
des katholischen Theologen an das Lehramt: Kongregation für
die Glaubenslehre, Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen,
24.5.1990 (= Verlautbarungen des Apostol. Stuhls 98, hg. v. Sekretariat der
Dt. Bischofskonferenz Bonn), Nr. 23, 28f, 35f, 38.

' W. Herrmann, Ethik, Tübingen/Leipzig 2190L

6 Vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, München 9I98I, 258f.

7 Vgl. K. Barth, KD II/2, Zollikon-Zürich 1946, 194, 198: hierzu Chr.
Frey, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, 94f.

8 „Der Mensch ist zwar unheilig genug; aber die Menschheit in seiner Person
muß ihm heilig sein... (N)ur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige
Geschöpf, ist Zweck cm sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen
Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit."
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A155f, Kant-Studienausg.. hg. von

der Gegenwart - eine materialeüäscbe Relevanz des Autonomiebegriffs
erneut geltend zu machen ist, sei an späterer Stelle
(s.u. II) anhand einer konkreten Sachthematik, der Humangenetik
, ins Licht gerückt: Die z.T. recht verschlungene neuzeitliche
Autonomiediskussion wird gegenwärtig in materialethischer
Hinsicht neu interessant. Zunächst sollen aber grundsätzliche
Aspekte des Autonomiebegrilfs angesprochen werden, wobei
aufgrund der lebhaften katholischen Debatte die katholische
Moral- und Soziallehre - die dann freilich auch zu kritischen
Bemerkungen herausfordert! - den Leitfaden abgeben soll. Drei
Deutungsoptionen von „Autonomie" seien unterschieden: die
Autonomie der Werte, der Lebensbereiche und der Person.

I. Deutungsaspekte des Autonomiebegriffs
1. Die Autonomie der Werte

Den Gedanken einer Autonomie der Werte kennt die matcria-
le Wertethik des frühen 20. Jh.s, für die Max Scheler, Nicolai
Hartmann und auch Rudolf Otto repräsentativ sind. Als „autonom
" gelten - vorrangig vor der subjektiven sittlichen Vernunft
des Menschen selbst - die ethischen Werte. Durch sein Gewissen
und durch sein Wertgefühl werde der Mensch auf sittliche
Werte verpflichtet, die ihrerseits „autonom" seien und den
Menschen von sich aus beanspruchen. Im ein/einen wurde von
diesem Ethikansatz dann eine Wertehierarchie und Wertpyramide
entwickelt. Fundamentale oder Basiswerte - nämlich der
Wert des Lebens, vitale Werte, auch ökonomische Werte - bilden
die Grundlage, über denen sich die höherwertigen, geistigen
, sittlichen Werte - Freiheit. Gerechtigkeit, das Gute - erheben
. An diesen habe der Mensch sich zuhöchst zu orientieren.
Eine materiale Wertethik, die eine Werthierarchie von materiellen
und vitalen hin zu sittlichen Werten enthält, wurde zunächst
von Scheler vertreten9, dessen Werk die katholische Morallehre
stark beeinflußt hat.10 In der katholisch geprägten Philosophie
ist der Gedanke einer Autonomie der Werte, einer ..Axionomie"
- „der Nomos liegt eben in den Werten" - ausdrücklich behauptet
worden.11 Sehr markant betonte aber bereits der atheistische
Ethiker N. Hartmann, daß ethischen Werten, die als platonische
Ideen zu verstehen seien, „Autonomie" zukomme.12 Dies aufgreifend
, vertritt ebenfalls der evangelische Theologe Rudolf
Otto eine Theorie „wirklich autonome(r) Werte in sich, die aus
sich heraus, ex natura rerum, unserm Gewissen gebieten".13

Die von Scheler und Hartmann im frühen 20. Jh. vertretene
Wertethik hat darin ihr Verdienst, daß sie überhaupt die Aufmerksamkeil
auf den Wertbegriff in der Ethik lenkte. Die Wert-

W. Weischedel, Darmstadt 1956, IV, 210; vgl. Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten, BA 74ff, 86f, Kant-Studienausg. a.a.O. 66f, 74.

' Vgl. N. Hartmann, Ethik, Berlin/Leipzig 21935. 230ff u. 252ff mit Hinweisen
auf Scheler, 349ff u.ö.

1(1 Bis hin zu Karol Wojtyla (Primat des Geistes, dt. Stuttgart 1979), der
die Wertethik Schelers freilich durch eine sog. ..realistische Seinsphilosophie
" (326) ontologisch nochmals zu Uberbieten sucht. Schelers phänomenologische
Darlegung der Wertehierarchie sei „keine Metaphysik" (258) und
bleibe in der Wahrheitsfrage defizitär (z.B. 260).

" Vgl. Th. Steinbüchel, Die philosophische Grundlegung der katholischen
Sittenlehre, D, Düsseldorf 41951 (= Hb. der kath. Sittenlehre 1/2), 220,
236ff, bes. 237. Zitat: J. Hessen, Ethik, Leiden 1954, 95 Anm. 82; vgl. ders.,
Lehrbuch der Philosophie II, Wertlehre, München 1948, 201, 203, 180.

12 Vgl. N. Hartmann, a.a.O. 120 („Die Autonomie der Person...setzt die
der Werte schon voraus: sie ist bereits Funktion der Werte"), 122, 124, 140,
231 f. Zum „Piatonismus" der Werte vgl. auch J. I [essen, Lehrbuch d. Phil. II
(Anm. I I) 171 f.

13 R. Otto, Aufsätze zur Ethik, München 1981, 222.