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Ausgabe:

1993

Spalte:

455-456

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Jünemann, Elisabeth

Titel/Untertitel:

Gemeinde und Weltverantwortung 1993

Rezensent:

Huber, Wolfgang

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 5

456

um die Beschäftigung des Dänen mit der „puritanischen
Sexualmoral" im „Begriff Angst". Ganz offensichtlich wird
dann in der Hegelpolemik Kierkegaards die .sozialkritische
Komponente deutlich. Schließlich ist die Pressepolemik gegen
das satirische Blatt „der Korsar" 1846 von entscheidender
Bedeutung für die Vertiefung der Massenkritik Kierkegaards,
bzw. differenzierter für die Kritik an der beifallheischenden
Menge.

Der Vf. kommt aber immer wieder - seine Hauptlinie verfolgend
- auf den Begriff des „Dämonischen" in allen Schattierungen
zurück. Am häufigsten, so die richtige Analyse, ist der sozial
-negative Aspekt der erotisch gelagerten Dämonie zu sehen,
wie sie von Don Juan bei Mozart verkörpert wird, was durch
Kierkegaards glänzende Analyse in „Entweder-Oder I" belegt
wird. Durch die tiefsinnige Parallelanalyse von Mozarts Don
Juan und Kierkegaards Johannes dem Verführer innerhalb von
„Entweder-Oder" erhält die Untersuchung Cattepoels einen
Höhepunkt. Dabei wird immer wieder auf Verzweigungen im
Werke Kierkegaards verwiesen (vgl. 123 Anm.!). Auch geraten
die Personalanalysen wie die von Nero („Verformung der Persönlichkeit
", 180f.) und die von Richard III. als „Typos des
politischen Dämons" (182) nicht in den Hintergrund. Solche
Figuren markieren ein negatives Grundmodell von Persönlichkeiten
, die gemeinschaftszerstörend wirken.

Von dorther ist dann die Gegenfrage erlaubt: Was kann
gemeinschaftsbejahend sein und wie kann man es bei Kierkegaard
feststellen? Lapidar wird geantwortet: „Kierkegaards
Ansätze zu einer Sozialphilosophie bestehen im Kern in einer
Entlarvung falscher Autoritäten, sowohl innerhalb von sehr
kleinen als auch sehr großen gesellschaftlichen Zusammenhängen
" (284). Das ermutigt zur Auseinandersetzung. Es geht über
den heute unpopulären Marx hinaus um die Erfahrbarkeit
„menschlicher Kommunikation". Wenn Marx seine Sozialkritik
bei der „Arbeit" beginnen läßt, so Kierkegaard bei der Sprache,
die ja „im weiteren Sinne" eben „menschliche Kommunikation"
bedeutet (vgl. 285). Mit der Sprache gibt es dann die Möglichkeit
der Lüge und der Verführung, vor allem auch der Selbst-
verführung. Da muß kritisch angesetzt werden, um zum
„Daseinsernst" zu gelangen. Geschieht das nicht, verfällt der
Mensch sich selbst und damit der Dämonie. Diese Gedankengänge
können in einem Satz zusammengefaßt werden:
„Kierkegaards Sozialkritik ist eine Kritik menschlicher Kom-
muniktion" (285).

Gegenüber den theologisch-ethischen Versuchen, das Gemeinschaftsproblem
bei Kierkegaard zu erhellen (vgl. z.B. Per
Wagndal, Gemenskapsproblemct hos Sören Kierkegaard, Lund
1954) stellt die Arbeit Cattepoels einen neuen, sozialphilosophischen
Ansatz und damit eine Bereicherung der Kierkegaardforschung
dar.

Detmold Wolfdietrich von Kloeden

Jünemann, Elisabeth: Gemeinde und Weltverantwortung.

Eine historisch-systematische Studie zur Wahrnehmung sozialer
Verantwortung durch die christliche Gemeinde. Würzburg
: Seelsorge/Echter 1992. 375 S. gr.8° = Studien zur
Theologie und Praxis der Seelsorge, 7. Kart. DM 48,-. ISBN
3-429-01430-1.

Die Autorin hat mit dieser Untersuchung 1991 an der Katholisch
-Theologischen Fakultät der Universität Bonn im Fach
Christliche Gesellschaftsichre und Pastoralsoziologie promoviert
. So ist eine Studie zum Verständnis von Weltverantwortung
in katholischen Gemeindekonzeptionen zu erwarten. Diese
Erwartung wird auch eingelöst. Dabei ist die Matcrialbasis der
Untersuchung im wesentlichen auf den (west-(deutschen

Sprachbereich eingeschränkt. Es fällt auf, daß die Vfn. weder
die konfessionelle noch die sprachliche Beschränkung ihrer
Untersuchung ausdrücklich erwähnt. Genannt wird allein die
zeitliche Beschränkung: die Studie beschäftigt sich im wesentlichen
mit der nachkonziliaren Entwicklung und greift auf Vorgänge
vor dem II. Vaticanum nur gelegentlich zurück.

Die Untersuchung präsentiert drei Grundtypen des Gemeindeverständnisses
, die jeweils Implikationen für die Frage der
Weltverantwortung haben: das volkskirchliche und damit territoriale
Prinzip der Pfarrei, das personale Prinzip der Gemeinde
als „Kontrastgesellschaft" und schließlich das befreiungstheologische
Konzept der Basisgemeinschaft. Dabei hält die Autorin
im Ergebnis an der Pfarrei als dem grundlegenden Strukturprinzip
kirchlichen Handelns fest. Ihm gegenüber bedeutet die Vorstellung
von der Gemeinde als „Kontrastgesellschaft" eine Einengung
des Wirkungs- und Ausstrahlungsbereichs der christlichen
Botschaft. Die Basisgemeinschaften aber versteht die
Autorin nicht als Alternative, sondern als mögliches Differenzierungsprinzip
innerhalb einer an der Pfarrei orientierten Kirchenstruktur
.

Gegenüber solchen Überlegungen zur Pastoralsoziologie
bzw. zur Lehre vom Gemeindeaufbau treten die Gedanken zur
Weltverantwortung der christlichen Gemeinde stärker in den
Hintergrund oder verbleiben doch im allgemeinen. Die durch
den Titel geweckte Erwartung, daß die Arbeit ein Konzept des
Verhältnisses der Kirche zu Gesellschaft und Staat vorlegt, das
konsequent von der Gemeinde aus gedacht ist, erfüllt sich nicht.

Die Stärken dieser Untersuchung liegen eher in der resümierenden
Zusammenlassung des Diskussionsstands als in der
innovatorischen Erschließung neuer Perspektiven. Evangelische
Leserinnen und Leser erhalten von der Autorin einen kundigen
, breit informierenden Überblick über den Diskussionsstand
in der deutschsprachigen katholischen Theologie. Parallele
Diskussionsgänge in der evangelischen Theologie werden
nur gelegentlich herangezogen. Stilistische Ungeschicklichkeiten
und gelegentliche Verschreibungen in den Literaturangaben
mindern den Informationswert dieser Studie nicht entscheidend.

Heidelberg Wolfgang Huber

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