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Ausgabe:

1993

Spalte:

452-454

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Beyer, Heinrich

Titel/Untertitel:

Erwerbsarbeit und Dienstgemeinschaft 1993

Rezensent:

Jäger, Alfred

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 5

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che, der sich weder einer „kircheninteressierten Rechtsinterpretation
" noch einer etatistischen Deutung anschließt, sondern
nüchtern analysiert, „ob rechtliche Privilegierungen der großen
Kirchen einer zeitgemäßen Erfüllung öffentlicher Aufgaben
eher förderlich oder hinderlich sind" (6). Historische Aspekte
treten gegenüber einer solchen funktionalistischen Betrachtungsweise
nahezu vollständig in den Hintergrund.

Nach einer merkwürdigerweise „Editorial" genannten Einführung
sind die Beiträge in vier große Blöcke gegliedert: Kirche
und Religion im politischen System; Staatsrecht - Kirchenrecht
- Demokratie; Öffentlichkeitsanspruch und Binnenorganisation
; Kirchliche Politik: Fallstudien. Im einzelnen ist die
Zuweisung der Untersuchung zu diesen vier Bereichen etwas
willkürlich. So tauchen unter den Fallstudien nur die beiden
Themen der Hirtenworte zu Bundestagswahlen (Markus Rock/
Jürgen von Rutenberg) und der kirchlichen Medienpolitik
(Hans J. Kleinsteuber) auf; die Haltung der bundesrepublikanischen
Kirchen zur Dritten Welt, die Gerhard Grohs darstellt,
wird dagegen in dem Teil über „Kirche und Religion im politischen
System" abgehandelt.

Die Beiträge des Bandes stammen zum kleineren Teil aus der
Feder von Juristen und Theologen, zum überwiegenden Teil
sind sie von Sozial- oder Politikwissenschaftlern verfaßt (ein
Autorenverzeichnis fehlt leider). Dabei mangelt manchen der
politikwissenschaftlichen Beiträge eine ausreichende Kenntnis
der Differenzen zwischen evangelischer und katholischer Kirche
; so werden Vorgänge aus beiden Kirchen bisweilen bunt
gemischt dargeboten, oder es wird beispielsweise behauptet,
ebenso wie Katholikentage von unten gebe es auch Kirchentage
von unten als „feststehende Einrichtung" (66).

Göttrik Wewer gibt einen breit angelegten, in Details leider
nicht immer präzisen Überblick über „die großen Kirchen und
das politische System der Bundesrepublik Deutschland". Anton
Pelinka setzt dies zur Rolle der Kirchen in anderen politischen
Systemen ins Verhältnis; sein Beitrag und derjenige von Udo
Steinbach über den Islam als Religion ohne Kirche sind die beiden
einzigen, die nicht auf das bundesrepublikanische politische
System konzentriert sind.

Zwei wichtige rechtswissenschaftliche Beiträge sind der
institutionellen Stellung der Kirchen im Rechtssystem der Bundesrepublik
gewidmet. Der Bremer Verfassungsrechtler Ulrich
K. Preuß, der das bundesrepublikanische Staatskirchenrecht
bereits im Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz dargestellt
hat, erläutert, warum die öffentlich-rechtliche Stellung der Kirchen
über den Status anderer großer Sozialverbände hinausgeht.
Rainer Keßler untersucht die arbeitsrechtliche Sondersituation
von Mitarbeitern im kirchlichen Dienst, insbesondere in der
Diakonie. Er macht Bedenken gegen die Zurückdrängung des
staatlichen Arbeitsrechts und der Rechte gewerkschaftlicher
Selbstorganisation in diesem Bereich geltend und gibt Anregungen
für eine Modifikation dieser Praxis.

Ernst-Ulrich Huster erörtert die wirtschafte- und sozialpolitische
Programmatik der Kirchen und geht deren Defiziten nach.
Er sieht sie vor allem in einem Mangel an analytischer Schärfe
und in ausweichenden Reaktionen auf die Ungleichheiten in
Einkommens- und Statusrelationen. Die wirtschaftliche Position
und Macht der Kirchen selbst wird in Beiträgen von Heidrun
Abromeit und Heinz D. Hessler zum Thema. Ergänzend zu
inzwischen vorliegenden, auch historisch orientierten Untersuchungen
bilden diese Beiträge einen willkommenen Vorstoß in
ein bisher unzureichend untersuchtes Gelände; denn nicht nur
die Politikwissenschaft, auch die Finanzwissenschaft hat dem
kirchlichen Finanzwesen keineswegs die notwendige Aufmerksamkeit
gewidmet.

Die beiden evangelischen Theologen in der Runde der Autoren
sind Michael Schibilsky und Klaus Tanner. Schibilsky diagnostiziert
, daß die wechselseitige Unabhängigkeit von Kirche

und Staat zugenommen hat; der Kirche kommt heute nicht eine
- ihrem Charakter nach vordemokratische - Legitimationsaufgabe
dem Staat gegenüber, sondern die Aufgabe kritischer Solidarität
zu. Deshalb bildet sozialethische Reflexion und Klärung
ihre bevorzugte Dienstleistung in der Gesellschaft. Man wird
lediglich das Wort „bevorzugt" an dieser These für Ubertrieben
halten können. Klaus Tanner informiert über den organisatorischen
Aufbau der evangelischen Kirchen und schließt daran die
Frage nach der verfahrensmäßigen Legitimation ihrer Äußerungen
zu politischen Fragen an. Daß den Denkschriften der EKD
eine demokratische Legitimation fehlt, läßt sich pragmatisch
gut plausibel machen; dennoch kann die EKD sich damit nach
Tanner nicht mehr zufrieden geben, seit sie in der Demokratiedenkschrift
von 1985 nach außen als Anwältin demokratischen
Denkens aufgetreten ist.

Die in diesem Band präsentierten Forschungsansätze und
Perspektiven fügen sich keineswegs zu einem einheitlichen
Bild; die veränderte Situation, die durch die Wende in der DDR
und die Vereinigung Deutschlands entstanden ist, hat gerade in
diesem Feld eine neue Forschungssituation zur Folge. Daß dadurch
weitere - und zwar in einem strengen Sinn interdisziplinäre
-Arbeiten zum Verhältnis von Kirche und Politik angestoßen
werden, bleibt zu hoffen.

Heidelberg Wollgang Huber

Beyer, Heinrich, u. Hans G. Nutzinger unter Mitarb. von Holger
Fischer: Erwerbsarbeit und Dienstgemeinschaft. Arbeitsbeziehungen
in kirchlichen Einrichtungen. Eine empirische
Untersuchung. Mit einem Nachwort von G. Brakelmann
. Bochum: SWI-Verlag 1991. 334 S. 8« = SWI...außer
der Reihe, 9. ISBN 3-925895-32-9.

Vor allem mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung wurde
es möglich, daß 1988-1990 im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften
an der Universität-Gesamthochschule Kassel unter
der Leitung von Hans G. Nutzinger ein Projekt durchgeführt
werden konnte, das sich unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten
mit innerkirchlichen Arbeitsverhältnissen beschäftigte
. Ausgangspunkt war ein latenter Konflikt, dessen
ideologische Überhöhungen durch empirisches Befundmaterial
unterlaufen werden sollten: „Während in vielen anderen ökonomischen
, sozialen und gesellschaftlichen Fragen Kirchen und
Gewerkschaften auf einer Seite stehen (,Reformbündnis'), vertritt
man bei der Frage der Tarifabschlüsse für kirchliche Arbeitnehmer
diametral entgegengesetzte Positionen" (113 u.ö.).
Im Zentrum steht somit der 1976 von zahlreichen evangelischen
landeskirchlichen Leitungen - heute mit Ausnahme von
Nordelbien und Berlin - übernommene „Dritte Weg" zwischen
arbeitgeber- und arbeitnehmerorientierter Tarifpolitik, der nach
einigen Jahren der Erprobung anhand einer begrenzten, methodisch
überprüfbaren Befragung im Bereich der Kirche und Diakonie
in Kurhessen-Waldeck auf seine Stärken und Schwächen
hin geprüft werden sollte.

Im ersten Teil (23-94) wird dementsprechend die Geschichte
und Struktur dieses Konflikts generell aufgearbeitet, wobei sich
mit Grund ergibt, daß Kirchen und Gewerkschaften olfenbar
von zwei völlig verschiedenen „Deutungsmuslern" kirchlicher
Mitarbeit ausgehen: „ein erwerbswirtschaftliches, vorrangig an
außerkirchlichen Begriffen und Funktionszusammenhängen
orientiertes Deutungsmusler auf Seiten der Gewerkschaften und
ein kirchlich geprägtes Deutungsmustcr auf Seiten der Kirchen-
vertreter, die Fragen der Arbeitsbeziehungen und der Interessenvertretung
primär innerhalb des Leitbildes der Dienstgemeinschaft
interpretieren" (22 u.ö.).

Aus dieser Hypothese ergeben sich im /weiten feil (95-135)