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Ausgabe:

1993

Spalte:

428-430

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Orientierung durch Philosophie 1993

Rezensent:

Keil, Günther

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427

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 5

428

stimmter Theologenfraktionen der neueren und neuesten Theologiegeschichte
ist, sondern zu den zukunftsweisenden Neuentdeckungen
der Vergangenheit gehört. Perspektiven für die weitere
Forschung zu eröffnen, war die erklärte Absicht des Unternehmens
. „Es hat nur einige Mosaiksteine zu einem Gesamtbild
des Kulturprotestantismus zusammentragen können in der Hoffnung
, damit auch die Lösung von Gegenwartsfragen zu befördern
, die von substantieller Bedeutung für den Bestand des
evangelischen Christentums in der Zukunft sind" (Einleitung
Hans Martin Müllers, 17).

Geordnet ist das Material nach drei Gesichtspunkten: [. „Ursprünge
" (21-136); II. „Phänomene" (139-257); III. „Wirkungen
und Umfeld" (261-388). In der Rubrik „Ursprünge" behandelt
F. W. Graf die Begriffsgeschichte des Terminus Kulturprotestantismus
. Zwar vermag er - wie er gleich zu Eingang seines
auch schon im „Archiv für Begriffsgeschichte" (Jg. 1984) gedruckten
Beitrags eingesteht -, „weder den Entstehungskontext
des Begriffs genau zu bezeichnen und eine in sich geschlossene
Begriffsgeschichte zu präsentieren noch schon meine fragmentarische
Darstellung über die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts
hinauszuführen" (21). Aber das wäre wohl auch zu viel
verlangt gewesen; und vielleicht ist es überhaupt gänzlich unmöglich
, einen derart in der Parteien Gunst und Haß inflatio-
nierten Begriff, der an allen seinen Rändern verfließt, in einen
begriffsgeschichtlich vollkommen konsistenten Rahmen zu
stellen. Begriffsgeschichtliche Untersuchungen sind in der
Theologie - namentlich in den exegetischen Fächern und in der
Kirchengeschichte - nicht neu. Sie aber auch für die Theologiegeschichtsschreibung
unter gleichzeitiger Rekonstruktion auch
außertheologischer Kontexte gezielt nutzbar zu machen - das
zählt zusammen mit den vielen guten Einzelbeobachtungen bei
der Quellenausschöpfung nicht zu den geringsten Verdiensten
des Grätschen Artikels. Offenbar hat das von Koselleck etablierte
Projekt der „Geschichtlichen Grundbegriffe" inter- und
transdis/iplinäre Früchte getragen.

Gerd Lüdemann behandelt „Das Wissenschaftsverständnis
der Religionsgeschichtlichen Schule im Rahmen des Kulturprotestantismus
". Ob es, wie Lüdemann (und sei es möglicherweise
auch nur aus arbeitsökonomischen Gründen) vorschlägt,
sinnvoll ist, unter Kulturprotestantismus (allein) „die theologische
Richtung im Umkreis von Albrecht Ritsehl" zu verstehen,
„die sich besonders in der Zeitschrift ,Die Christliche Welt' formierte
" (78), wage ich zu bezweifeln. Gewisse normative Neigungen
im Umgang mit dem so heterogenen, ja teilweise kontradiktorischen
Phänomen sollten m.E. beim derzeitigen Forschungsstand
vermieden werden, um den Blick nach allen Seiten
freizuhalten. Die Religionsgeschichtliche Schule ist mit
dem Kulturprotestantismus nicht identisch, könne aber nur im
Zusammenhang mit ihm verstanden werden (ebd.). Es gab zwischen
dem Kulturprotestantismus (im Sinne der Lüdemann-
schen Definition) und der Religionsgeschichtlichen Schule
mancherlei Spannungen, Unzuträglichkeiten und Ambivalenzen
, wie der Vf. an einigen Beispielen herausarbeitet, welche
der Verhältnisbestimmung von Theologie und Religionswissenschaft
gewidmet sind. Religion strikt als soziales, sozial- und
individualpsychologisches Phänomen zu analysieren, stößt im
Rahmen der Theologie an gewisse Grenzen, die ja in ihrer
„doppelten Loyalität" (zur scientific Community einerseits, zur
Kirche andererseits) auch bestimmte Funktionen der Identitätspräsentation
zu erfüllen hat.

Der Aufsatz Ernst Bammels „Staat und Kirche im Zweiten
Kaiserreich" ist, auch wenn der Vf. ein wenig altertümlich mit
der Geschichte umgeht und ziemlich relevante neue Forschungen
(z.B. zum Fall Spahn) nicht berücksichtigt, in narrativer
und stilistisch-ästhetischer Hinsicht die vielleicht beste Leistung
des Bandes. Man merkt den Ausführungen aber an, daß
der für die meisten anderen Beiträger des Sammelbandes selbstverständliche
Kontext der Diskurse um den Kulturprotestantismus
(z.B. auf der Plattform der Forschungen zu Troeltsch und
M. Weber) dem Vf. nur punktuell vor Augen stand. Der Bezug
zum Thema „Phänomenologie des Kulturprolcstantismus"
bleibt insgesamt zu locker. Die Kernthese über die Beziehung
von „christlich-germanischer Kultur" (seit Friedrich Wilhelm
IV.) und dem Kulturprotestantismus des Kaiserreichs wird leider
nicht extensiv und nicht begriffsscharf genug reflektiert.

Jeder weitere der insgesamt noch elf Beiträge (in den Sparten
„Phänomene" sowie „Wirkungen und Umfeld") hätte es verdient
, eigens angesprochen und vorgestellt zu werden. Das ist
aus Platzgründen leider nicht möglich. Deshalb seien lediglich
die Schwerpunkte genannt, die hier zur Verhandlung kommen.
In Teil II sind es Adolf von Harnack (Rolf Schäfer), Aspekte
eines kulturprotestantischen Bildungsbegriffs (Rainer Preul),
subjektive Religion und Lebenspraxis des Christen (Dietrich
Rössler), der Evangelisch-Soziale Kongreß als sozialethisches
Forum des Kulturprotestantismus (Volker Drehsen), das kulturprotestantische
Geschichtsbild mit Schwerpunkt bei Troeltsch
und M. Weber (Johannes Weiß) und „Die Christliche Welt"
(Reinhard Schmidt-Rost). Teil III exemplifiziert die Stichworte
„Wirkungen und Umfeld" am „Kulturkatholizismus" der Zeitschrift
„Hochland" (Heinhard Steiger), am reformkatholischen
Modernismus (Hans Marlin Müller), an den Wirkungen der Religionsgeschichtlichen
Schule auf die Neutestamentliche Wissenschaft
(Gerd Lüdemann) und am Erbe Troeltschs in der
Geschichtsphilosophie Emanuel Hirschs (Eilert Herms).

Der Sammelband ordnet sich einem in den letzten Jahren
deutlich erweiterten und farbiger gewordenen Spektrum von
Forschungen zu Teilaspekten, -problemen und Repräsentanten
des Kulturprotestantismus ein, das sowohl innerhalb wie außerhalb
des deutschen Sprachraums (Italien, Frankreich, USA,
Großbritannien, ja sogar Japan!) entstanden ist. Wenn an dieser
wichtigen Veröffentlichung, die zweifellos ein Bezugspunkt für
Künftiges sein wird, Momente der Kritik zu artikulieren wären,
dann würde ich sagen: 1. Die Erweiterung der Phänomenologie
des Kulturprotestantismus über die Bezirke des Theologischen
hinaus - etwa hin zur allgemeinen Geschichtswissenschaft, zur
Philosophie und zu den schönen Künsten - hätte gezeigt, daß
Kulturprolestantismus in allen Segmenten des Wissenschal'tssy-
stems und der Gesellschaft zu Hause war; 2. Harnack ist mit der
Frage von Rolf Schäfer, ob er „eine Symbolfigur des Kulturprotestantismus
" war (139ff.) zwar zutreffend anvisiert, aber insgesamt
- ungeachtet seiner vielfachen Erwähnung auch in anderen
Beiträgen - noch nicht hinreichend präsentiert und analysiert.
Am Schluß keine Kritik, vielmehr ein produktiv gemeintes Bedauern
. Schade, daß es wahrscheinlich aus Umfangs- und verkaufsstrategischen
Gründen nicht möglich war, die wesentlichen
Elemente der Bad Homburger Diskussionen zu den jeweiligen
Beiträgen mitzuliefern. Dann hätte die Leset schal l
auch noch von den Beobachtungen und Beiträgen eines Gründer
, Lepsius, Marquard, T. Rendtorff profitieren können.

Leipzig Kurt Nowak

Philosophie, Religionsphilosophie

Koslowski, Peter |Hg.|: Orientierung durch Philosophie. Ein

Lehrbuch nach Teilgebieten. Tübingen: Mohr 1991. IX, 436
S. 8° = UTB, 1608. Kart. DM 36,80. ISBN 3-16-14715-3.

„Philosophie ist der Versuch, eine Theorie der Gesamtwirklichkeit
zu schaffen" (1), so beginnt Peter Koslowski seinen
einleitenden Artikel über „Philosophie als Theorie der Gesamt-