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Ausgabe:

1993

Spalte:

426-428

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Kulturprotestantismus 1993

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Theologische Literaturzeitung I 18. Jahrgang 1993 Nr. 5

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Grundfunktion reduziert, daß sie der Konstitution und dem Selbstaufbau
des christlich-frommen Selbstbewußtseins zu dienen
haben." (302) Bei Schleiermacher komme es zu einer überdehnten
Funktionalitat der Theologie. Es gelinge ihm nicht, die vom christ-
lichen-frommen Selbstbewußtsein vorausgesetzte Selbständigkeit
Gottes zu fundieren. „Als ursächlicher Grund des Abhängigkeitsgefühls
bleibt das mit dem Ausdruck ,Gott' Gemeinte ein vom
Abhängigkeitsgefühl dependierendes Relat." (307)

Der dritte Teil des anzuzeigenden Sammelbandes steht unter
dem Stichwort „Philosophie". Andreas Arndt (Berlin) beschäftigt
sich mit der Vorgeschichte von Schleiermachers Begriff der
Dialektik. Frühromantische und idealistische Theroiebildungs-
prozesse, insbesondere die kritische Begegnung Schleiermachers
mit Fichtcs Wissenschaftslehre, seien das Wurzelfeld von
Schleiermachers Dialektik. Schleiermachers Dialeklikbegriff,
der wesentlich konvergiere mit dem Schellingschen in dessen
„Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums", -
was aber keineswegs „eine wechselseitige Beeinflussung Schillings
und Schleiermachers" inkludiere (329) - sei die „Vollendung
eines frühromantischen, wesentlich von Friedrich Schlegel
beeinflußten Konzepts" (333).

Richard Crouter (Northfield, Minnesota) thematisiert in seinem
mich nicht überzeugenden Beitrag "The 'Reden' and
Schleiermacher's Theory of Language. The Ubiquität of a Ro-
mantic Text" (335ff.)

Michael Eckert (Regensburg) meint, daß Nicolaus von Cues
und Schleiermacher „das christlich-religiös motivierte Interesse
an der Individualität des Menschen" verbinde. (351) Eckerts
These ist es, „daß Schleiermachers Theorie des Selbstbewußtseins
sich als Vermittlung der antinomischen Problemstellung
des Cusanus interpretieren läßt, die auf eine Dialektik von Identität
und Individualität führt". (35 1) Bei Schleiermacher realisiere
sich diese unter den Konditionen neuzeitlicher Vernunftkritik
als transzendentale Bestimmtheit des Selbstbewußtseins, m.a.W.
als sich nicht selbst Grund setzendes Individuum.

Grundlegend scheint mir für den Beitrag Ellert Herms'
(Mainz) die von ihm zitierte (401) Aussage Schleiermachers zu
sein: „Glaube ist besonders die im Selbstbewußtsein gesetze
Gewißheit von dem Mitgesetzten" (KGA 1/7, 3,26 Marg. 92). E.
Herms thematisiert „die Bedeutung der ,Psychologie' für die
Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher
" (369ff.) (Schleiermachers Psychologie in ihrer aktualen
Relevanz gilt der Beitrag von Terrence N. Tice [Ann Arbor,
Michigan], 5()9ff.) Gegenstand der Psychologie - so E. Herms -
sei nach Schleiermacher (seit 1818) das „durch das Leben selbst
konstituierte Wissen des Menschen um sich selbst". (394) Psychologie
biete in ihrer Vollendungsgestalt „das höchste und letzte
, nämlich alles spekulative und empirische Wissen zusammenlassende
Wissen." (393/394) Die Psychologie habe für Schleiermachers
Konzeption des Wissenschaftssystems fundamentale
Relevanz, „weil sie Theorie dieses für uns Unmittelbaren,
Ersten und Ursprünglichen ist, Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins
." (394)

GünterMeckenstock (Kiel) analysiert die sprachlichen Änderungen
in den vier Auflagen der „Monologen" mit dem Ergebnis
, daß diese gekennzeichnet seien durch Bemühung um Eindeutigkeit
und Klarheit und das Ausräumen von Mißverständnissen
, insbesondere dem, als sei das urbildliche Selbst Schleiermachers
faktische Person.

Kurt Nowak (Leipzig) untersucht Schleiermachers Abhandlung
„Über den Geschichtsunterricht" aus dem Jahre 1793. In
dieser verstehe Schleiermacher „Geschichte als ein komplexes
Gefüge" (439). Nowak vertritt die These, Schleiermacher habe
Anteil „an der Ausbildung der modernen Geschichtswissenschaft
". (419)

Zurecht ist Hermann falsch (München) der Meinung, daß
Sehleiermacher mit seiner zuweilen ironischen und sarkastischen
Rezension von Fichtes „Grundzügen des gegenwärtigen
Zeitalters" von 1806 diesem nicht gerecht wird.

Engagiert behandelt Ruth Drucilla Richardson (Raymondvil-
le. Texas) Schleiermachers Verständnis der Liebe. Grundlage
sind ihr Schleiermachers „Vertraute Briefe über Lucinde"( 1800)
und „Brouillon zur Ethik" (1805/06). Für Schleiermacher sei
Liebe bipolar, qua Geist und Natur. Liebe sei Schleiermacher
"essential to human existence and a primary goal of human life"

(458) . Durch sie werde man befähigt, isoliertes Mann- und Frausein
hinter sich zu lassen und "become a complete human being
or Mensch". (458) Männer und Frauen müßten vor der Ehe "a
period of experimentation with love" garantiert bekommen.

(459) Schleiermachers Ansicht sei "quite revolutionary" (460)
gewesen. Schleiermacher plädiere aber nicht für libertinisti-
schen Geschlechterverkehr, sondern für Bildung und Reifung
der Geschlechter aneinander. So gebildet würden Frau und
Mann zur Ehe qualifiziert. Der gegenseitige Austausch der Geschlechter
ermögliche rechtes Menschsein. Männer seien
wesentlich durch Denken und Philosophie, Frauen durch höheres
Gefühl und Phantasie ausgezeichnet. Menschlichkeit ereigne
sich, wo das Gefühl der Frau und die Anschauung des Mannes
sich vereine. Volles Menschsein in seiner freien Geselligkeit
entfalte sich erst in der Familie.

Joachim Ringlehen (Göttingen) übt in seinem Beitrag „Die
Sprache bei Schleiermacher und Humboldt. Ein Versuch zum
Verhältnis von Sprachdenken und Hermeneutik" (473ff.) aus
der Perspektive Wilhelm von Humboldts Kritik an Schleiermachers
Sprachdenken. Die ethische Kausalität Schleiermachers
will Sergio Sorrentino (Neapel) untersuchen. Für Schleiermacher
gelte: „Die Struktur des ethischen Handelns ist die Struktur
der geschichtlichen Produktivität" (494ff.)

Man legt diesen von Günter Meckenstock in Verbindung mit
Joachim Ringleben hg. Band mit Gewinn aus der Hand. Wichtige
Themen der Relevanz Schleiermacherschen Denkens werden
behandelt. Kritisch muß man bemerken, daß das Gespräch mit
der Sekundärliteratur in einer Reihe von Beiträgen fast ganz ausbleibt
bzw. nur eingeschränkt geführt wird. Zweifellos macht
dieser Sammelband „Appetit" auf das Werk jenes Mannes, der
sagte: „Liebenswürdig ist, wer liebt, das heißt, wer überall im
Endlichen das Unendliche findet. Groß, wer das Endliche um
des Unendlichen willen wegwirft. Vollendet, wer beides vereint
." (F. D. E. Schleiermacher, Bruchstücke der unendlichen
Menschheit. Fragmente, Aphorismen und Notate der frühromantischen
Jahre, hg. von Kurt Nowak, Berlin 1984, 81).

Jena Udo Kern

Müller, Hans Martin: Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer
Gestalt des modernen Christentums. Gütersloh: Mohn 1992.
397 S. gr.80. ISBN 3-579-00275-9.

Dieser Sammelband ist aus einer Serie von hochrangig besetzten
Kolloquien hervorgegangen, die unter der Überschrift
„Phänomenologie des Kulturprotestantismus. Selbstdeutung und
Kritik" von 1986-1989 in der Werner-Reimers-Stiftung (Bad
Homburg) stattgefunden haben. Spiritus rector des Unternehmens
war Hans Martin Müller (Tübingen), der hierbei Unterstützung
durch weitere Theologen (Hans-Joachim Birknert,
Dietrich Rössler, Trutz Rendtorff u.a.), aber auch durch Soziologen
(Rainer Lepsius) und durch Philosophen wie Karlfried
Gründer, Hermann Lübbe, Odo Marquardt fand. Die Teilnehmerliste
der Bad Homburger Kolloquien ist mit den Autoren, die
zum Sammelband beigetragen haben, nicht deckungsgleich.
Jedoch finden sich auch unter ihnen höchst markante Namen.
Erwähnt sei all dies, um anzudeuten, daß der sog. Kulturprotestantismus
längst nicht mehr die karikierte Zielscheibe be-