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Ausgabe:

1993

Spalte:

379

Autor/Hrsg.:

Waschke, Ernst-Joachim

Titel/Untertitel:

- 388 "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist ..." (Mi 6,8) 1993

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379

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 5

380

Ernst-Joachim Waschke *
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist..." (Mi 6,8)

Zur Frage nach dem Begründungszusammenhang einer biblischen Ethik
am Beispiel des Dekalogs (Ex 20/Dtn 5)

Hans-Jürgen Zobel zum 65. Geburtstag

I.

Angesichts vieler Versuche seitens Kirchenleitungen und
Synoden, eigene Schuld in der jüngsten Vergangenheit zu
benennen, hat Altbischof W. Krusche auf der 3. Tagung der VI.
Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen im Februar
1991 auf ein theologisch bedenkliches Symptom aufmerksam
gemacht. Er stellt nämlich fest, daß hier „nur selten von der
Schuld Gott gegenüber die Rede" ist.1 Zu einer ähnlichen
Beobachtung kommt auch F. Winter bei seiner Auswertung dieser
Problematik: „Im Blick auf eine Einordnung unter die
Gebote Gottes fällt auf, daß nur seltener gesagt wird, daß gegen
Gottes Gebot(e) verstoßen worden ist. Sehr viele Christen und
Synoden verhalten sich an dieser Stelle arkan. Es werden wohl
Fehler im Blick auf das Zusammenleben der Menschen in der
Gesellschaft angesagt; aber daß hier gegen Gottes Willen gehandelt
worden ist, tritt im Bekenntnis zurück. Darin besteht
der Unterschied zur Zeit nach 1945. Häufig wirken darum
Schuldhinweise von Christen in keiner Weise anders als von
NichtChristen".2 Für dieses offensichtliche Defizit gibt es verschiedene
, teilweise auch einsichtige Gründe. Vieles, was im
Rückblick auf 40 Jahre Geschichte der Kirchen in der DDR formuliert
worden ist, war zugleich für eine säkularisierte Öffentlichkeit
bestimmt und diente nicht allein der innerkirchlichen
Orientierung. Ein Bekenntnis der Schuld vor Gott kann so betrachtet
mißverstanden werden als ein theologisches Alibi, mit
dem sich die Kirchen der konkreten Verantwortung gegenüber
der Gesellschaft entziehen wollen. Wenn ein solches Mißverständnis
sicher nie auszuschließen ist, so könnte in dem Verzicht
auf ein solches Bekenntnis aber auch ein Defizit an theologischer
Grundlegung im Bereich christlicher Ethik angezeigt
sein. M. Beintker warnt in dem gleichen Zusammenhang jedenfalls
vor der „Fragwürdigkeit einer ethizistischen, sozialethizi-
stischen oder moralistischen Verkürzung der Christusbotschaft,
wie sie im Grunde in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen
beliebt ist". Und er schreibt weiter: „Auch der ethizistische Reduktionismus
der Schuldfrage steht den Christen schlecht zu
Gesicht. Die biblisch-reformatorische Auffassung, daß jegliche
Schuld zuerst und entscheidend als Schuld vor Gott bekannt
werden muß, weil sie Schuld an Gott ist, bedarf der Beachtung
und Beherzigung."3

Die Frage nach dem biblischen Begründungszusammenhang
ethischer Aussagen in Theologie und Kirche könnte sich angesichts
derartiger Beobachtungen heute geradezu als notwendig
erweisen.

II.

Für die Frage einer christlichen Ethik spielt das Alte Testament
an sich keine überragende Rolle. In der jüngsten Forschungsgeschichte
zu diesem Problemkreis hat E. Otto deutlich

*Überarbeitete Fassung eines Vortrages im Rahmen der Theologischen
Woche der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Oktober 1991.

1 Zitiert nach M. Beintker, Die Schuldfrage im Erfahrungsfeld des gesellschaftlichen
Umbruchs im östlichen Deutschland, in: KZG 4, 1991, 445-
461,448.

2 Öffentlich Schuld bekennen. Schuld und Vergebung vor und nach der
„Wende" im Bund der Evangelischen Kirchen (in der DDR), in: KZG 4,
1991,422-445,440

3 Die Schuldfrage... (Anm. 1), 461.

gemacht, daß in der alttestamentlichen Wissenschaft selbst ethische
Fragestellungen im Vergleich zu den theologischen zumeist
äußerst stiefmütterlich behandelt werden. Dies hat seiner
Überzeugung nach mehrere Gründe. Sie „sind nicht nur darin
zu suchen, daß sich auf dem Felde der Ethik die hermeneuti-
schen Probleme nicht nur der historischen Abständigkeit, des
.garstigen Grabens' der Geschichte, zwischen Altem Testament
und der Moderne, sondern gerade auch zwischen Altem und
Neuem Testament in einem Kanon bündeln".4

Wenn sich auf diesem Hintergrund die Zurückhaltung der alt-
testamentlichen Wissenschaft im Blick auf ethische Fragestellungen
teilweise verständlich machen läßt, so ist diese Zurückhaltung
doch an zwei Punkten zu hinterfragen.

1. Die christliche Ethik wird noch immer maßgeblich durch
einen alttestamentlichen Text, den Dekalog (Ex 20/Dtn 5), mitbestimmt
. Die Bedeutung der „Zehn Gebote" ist schon deshalb
nicht zu unterschätzen, weil sie auch außerhalb von Theologie
und Kirche das Bild von dem geprägt haben, was Grundnorm
einer christlichen Ethik ist oder sein sollte.5 Sicher ist nicht zu
bestreiten, daß der Dekalog diese Bedeutung nicht als ein altte-
stamentlicher, sondern als ein biblischer Text und vor allem als
erstes Hauptstück des Großen und Kleinen Katechismus Martin
Luthers gewonnen hat. Luther galt der Dekalog im Katechismus
als Summa der Heiligen Schrift. Im Vorwort zum Großen Katechismus
schreibt er: „Denn das muß ja sein: wer die zehen
Gebot wohl und gar kann, daß der muß die ganze Schrift können
, daß er könne in allen Sachen und Fällen raten, helfen, trösten
, urteilen, richten beide geistlich und weltlich Wesen und
müge sein ein Richter über alle Lehre, Stände, Geister, Recht
und was in der Welt sein mag. Und was ist der ganze Psalter
denn eitel Gedanken und Ubunge des ersten Gebots?".6 Erst im
Zuge dieser Auslegungsgeschichte kann gesagt werden: „Die
Zehn Gebote sind die Grundlage und die Anfänge christlicher
Ethik". Aber mit H.-G. Fritzsche ist dem gleich hinzuzufügen:
„Es liegt... viel daran, wie sie kommentiert und welche Probleme
an ihnen zur Sprache gebracht werden."7 Aber gerade im
Blick auf die weite und unterschiedliche Auslegungsgeschichte
des Dekalogs hebt dies Letztlich nicht die Frage auf, ob der für
ihn im Alten Testament konstitutive theologische Begründungszusammenhang
nicht auch zu den theologischen Grundlagen
einer christlichen Ethik zu rechnen ist.

2. Neuere Forschungen zur alttestamentlichen Rechtsgeschichte
haben wieder verstärkt auf den Prozeß der Theologisie-
rung altisraelitischer Rechtsvorstellungen aufmerksam ge-

4 Forschungsgeschichte der Entwürfe einer Ethik im Alten Testament, in:
VuF 36, 1991,3-37, 10.

5 So verwendet etwa F. Winter (Öffentlich Schuld bekennen... [Anm. 2],
440) bei seiner Untersuchung den Dekalog als Raster, und er stellt fest:
„Deutlich ist, daß Sünden im Bereich der Ersten Tafel des Gesetzes, wo es
um Vertrauen und Liebe zu Gott geht, seltener offengelegt werden... Nicht
berührt werden im Blick auf die Zweite Tafel des Gesetzes - nach lutherischer
Zählung - das 6. Gebot (Ehe- und Familienprobleme), das 7. Gebot
(Eigentumsprobleme) sowie das 9. und 10. Gebot (Begehren von Menschen
und Eigentum anderer)."

6 BELK, Berlin 51960, 552; vgl. G. Wenz, Die Zehn Gebote als Grundlage
christlicher Ethik. Zur Auslegung des ersten Hauptstücks in Luthers
Katechismen, in: ZThK 89, 1992, 404-439.

7 Hauptstücke des christlichen Glaubens, Berlin 1977, 160.