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Ausgabe:

1993

Spalte:

370-371

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Siemens, Peter

Titel/Untertitel:

Carl Friedrich Keil, Studien zu Leben und Werk 1993

Rezensent:

Keil, Friedrich

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369

Theologische Litcratur/.eitung I 18. Jahrgang 1993 Nr. 4

370

zeit, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760). verkörpern
in der Tat zwei unterschiedliche Geisteshaltungen. In schroffem
Gegensatz begegnen sich hier Religions- und Theologiekritik
vom materialistisch-atheistischen Ansatz und evangelische
Gemeindegründung und Christozentrismus auf dem Fundament
der paulinisch-lutherischen Kreuzestheologie.

Die Religionskritik Feuerbachs erstarkt protestphilosophisch
im Gegenüber zur Philosophie des deutschen Idealismus von
Kant, Fichte, Schelling und Hegel und verhärtet sich auf dem
Boden des anthropologischen Materialismus. Der protestphilosophischen
Grundentscheidung geht Feuerbachs sorgfältige
Analyse der „Geschichte der neueren Philosophie von Bacon
von Verulam bis Benedikt Spinoza" von 1833, die „Geschichte
der neueren Philosophie. Darstellung, Entwicklung und Kritik
der Leibnizschen Philosophie" von 1837 und die Schrift „Pierre
Bayle nach seinen für die Geschichte der Philosophie und
der Menschheit interessanten Momenten" von 1837 voraus.
Diese philosophiegeschichtlichen Arbeiten sind Grundlage des
philosophischen Denkens Feuerbachs und Ausgangsbasis seiner
religionskritischen Hauptschriften „Das Wesen des Christentums
'" von I 842. „Grundsätze der Philosophie der Zukunft"
von 1843, „Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers, ein Beitrag
zum: Wesen des Christentums" von 1844 und die „Vorlesungen
über das Wesen der Religion" im Rathaussaal zu Heidelberg
von Dezember 1848 bis Frühjahr 1849.

Feuerbach betrachtet sein Lebenswerk als „Reformation der
Philosophie" und urteilt „Ich bin Luther II", nachdem die Reformation
von Kirche und Theologie im 16. Jahrhundert durch
Martin Luther erfolgte. Er sieht sich als Luthers Testamentsvollstrecker
.

In Feuerbachs bis jetzt nahezu unberücksichtigter Spätschrilt
über „Zinzendorf und die Herrnhutcr" von 1866 verdichtet sich
seine Religionsphilosophie, die konsequente Religionskritik ist,
dabei aber den Anspruch erhebt, Luthers Theologie als Anthropologie
zu deuten, um dem enttheologisierten Luther philosophiegeschichtlich
den Standpunkt des Atheismus zuzuweisen.
Dabei öffnet sich Feuerbach als Religionskritiker der lutherischen
Theologie- und Kirchengeschichte und bezieht Johann
Arndt, Ph. Jacob Spener, aber auch John Weslcy bei seiner Interpretation
Zinzendorfs ein.

Zinzendorfs Weise, Gemeinden zu gründen und Theologie
zu treiben wird zur Veranlassung, daß er von Zeitgenossen „Lu-
therus redivivus" genannt wurde.

Zustimmend greift Feuerbach das Diktum auf, um den Nachweis
zu erbringen, daß Zinzendorfs Gemeinde das konzentrierte
Christentum und das konzentrierte Luthertum darstelle. Dabei
ist Feuerbachs Urteil mit Verweisen in Form von Zitaten
aus Schriften Zinzendorfs und den Herrnhutern, aus Schrillen
von Luther und Spener sowie aus Gesamtdarstellungen zur Kirchen
- und Theologiegeschichte erwachsen. Line geradezu mikroskopische
Analyse der Zitate und ihrer Kommentare ergibt:
Zitate werden verdreht und entstellt, zugleich mit korrekten
Zitaten verknüpft und zu einem fast unlösbaren Zitationsknäuel
verschlungen. Der Zweck des Verfahrens ist es, den ursprünglichen
Sinn der Zitate zu verdunkeln, um den Zitaten durch Feuerbachs
Hermeneutik einen anderen - nämlich im Sinne Zinzendorfs
und Luthers - falschen Sinn zu unterstellen. Diese
Analyse bildet das feste Fundament der Metakritik der Religionskritik
. Hier wird der eindeutige Nachweis des Protopseudos
der Feuerbachschen Religionskritik erbracht. Hier ruht der versteckte
Grundirrtum Feuerbachs. Zinzendorf als Atheisten zu
interpretieren, der im Lichte der Quellen Zinzendorfs als unhaltbar
zurückgewiesen wird, da Zinzendorf in Auseinandersetzung
mit den Geistesströmungen seiner Zeit dem Atheismus
den Kampf angesagt hatte. Da sich beide, Zinzendorf und Feuerbach
, mit Pierre Bayle auseinandersetzten, ist dessen Ringen
mit der Atheismusfrage kritisch ins Gespräch mit Feuerbachs

Atheismusverständnis zu bringen. Im Zentrum steht dabei die
theologica crueifixi. Indem Feuerbach Zinzendorf und den
Herrnhutern die Position des Atheismus unterstellt, schafft er
die Grundlage seiner nihilistischen Deutung des Herrnhutertums
und Christentums. Feuerbach: „In der That: der Herrnhutianis-
mus ist das im Blute Christi, im Blute des Menschen concen-
trierte, aber auch aufgelöste und zersetzte Christentum." (SW
X, 80). Hier wird die Theologie mit dem Abgrund des Nihilismus
konfrontiert, dessen Spuren im Lebenswerk Feuerbachs
nachweisbar sind und bereits den Nihilismus von Friedrich
Nietzsche, aber auch die religionskritische Grundentscheidung
der Psychoanalyse Sigmund Freuds vorwegnehmen. Als Theoriemoment
wird die Trieblehre, die Feuerbach bereits in seiner
Dissertation umschreibt, wohl am ehesten von einer Hermeneutik
des Unbewußten erfaßt. In den Sog des Nihilismus geraten
nicht nur die Theologie Luthers und Zinzendorfs, sondern auch
Feuerbachs ureigenes Lebensthema, die Anthropologie.

Im Duktus der Untersuchung wird die Theologie Zinzendorfs
mit der deutschen und anglo-amerikanischen Forschung
kommentiert. Ludwig Feuerbachs Philosophie wird demgegenüber
auch den Grundlagen der Forschungsergebnisse westeuropäischer
Philosophie, aber auch im Gespräch mit und im
Gegenüber zur marxistisch-leninistischen Forschung im Osten
entfaltet. Dies ist mehr als ein Dialog zwischen Theologie und
Philosophie. Hierin liegt die praktische Seite der nachgewiesenen
Selbstauflösung der Religionskritik.

Siemens, Peter: Carl Friedrich Keil. Studien zu Leben und
Werk. Diss. Tübingen 1992. 313 S.

Über den neulutherischen Theologen C.Fr. Keil (1807-1888)
liegt bislang noch keine wiss. Untersuchung vor. Die Dissertation
gibt in Teil I (10-103) eine ausgeführte Biographie Keils,
die seinen ungewöhnlichen Lebensweg auf dem Hintergrund
des 19. Jh.s nachzeichnet. Der Teil II (104-228) skizziert unter
theologiegeschichtlichen Gesichtspunkten das Werk Keils, der
als Alttestamentler aus der Schule E. W. Hengstenbergs vor
dem Umbruch durch Wellhauscn großen Einfluß hatte. Im Anhang
findet sich ediert Keils Lebensbeschreibung (238-277),
deren Entdeckung die quellenorientierte Darstellung erst ermöglichte
. Auf Grund der Lehrtätigkeit Keils von 1833-1858,
seit 1839 Oridnarius für Exegese und orientalische Sprache im
baltischen Dorpat, widmet sich die Dissertation ausführlich
(51-93) diesem Abschnitt der Universitätsgeschichte. Keils Berufung
leitete den Übergang der dortigen ev. Fakultät zur kirchlich
-konfessionellen Richtung ein. Erstmals werden die Hintergründe
seiner umstrittenen Berufung erkennbar.

Die Darstellung seines Werks gibt Einblick in Anschauungen
einer kirchlich-konfessioneller Theologie des 19. Jh.s, die
im Gefolge Hengstenbergs und in kritischer Distanz zur zeitgenössischen
historisch-kritischen Theologie betrieben wurde.
Große Bedeutung erlangen dabei Keils Schriften zur biblischen
Archäologie, der alttestamentlichen Einleitung und der „Biblische
Commentar über das Alte Testament" (BC). Die Dissertation
widmet dem BC einen eigenen Abschnitt (132-147).

Ergänzende Übersichten über das Verhältnis von Keil zu seinem
Leipziger Mitarbeiter Franz Delitzsch, zu seinem Dorpater
Kollegen J. H. Kurtz und seinem Berliner Lehrer Hengstenberg
beschließen (208-228) die Untersuchung.

Erstmals ist das Werk Keils bibliographisch vollständig erhoben
, eine Umschau nach den verfügbaren ungedruckten und
gedruckten Quellen gehalten und das Echo anhand zeitgenössischer
Rezensionen und der vorwiegend englischen Übersetzungen
im Literaturverzeichnis (282-310) ausführlich dokumentiert
.