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Ausgabe:

1993

Spalte:

366-367

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Winkler, Klaus

Titel/Untertitel:

Werden wie die Kinder? 1993

Rezensent:

Fraas, Hans-Jürgen

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Theologische Literatur/.citung I 18. Jahrgang 1993 Nr. 4

366

Schweidtmann, Werner: Sterbebegleitung. Menschliche Nähe
am Krankenbett. Stuttgart: Kreuz 1991. 219 S. 8°. ISBN 3-
7831-1075-0.

Der Vf., Dr.rer.media und Dr.theol., hat eine klinische Seelsorgeausbildung
und eine therapeutische Zusatzausbildung
durchlaufen und arbeitet als (katholischer) Seelsorger in einer
Klinik. Der Leser spürt dem engagiert geschriebenen Buch die
eigene Erfahrung ab, auch dort, wo er Forschungsergebnisse
referiert. Das Buch ist umfassend angelegt: l. Gesellschaftliche
Bedingungen heutigen Sterbens in ihrem geschichtlichen Kontext
, 2. Das Erleben des Sterbens, 3. Zwischen „Wahrheit" und
Verleugnung, 4. Wie wird man mit der Krankheit fertig?, 5.
Was Patienten selber denken, 6. Sterbebcgleitung.

Am eindrücklichsten sind die Berichte über eigene Erfahrungen
; im 2. Kapitel werden die unterschiedlichen Erlebniswei-
sen durch eigene Kontakte mit Sterbenden belegt (35ff), und
im letzten Kapitel erzählt er von einer Begebenheit, die in ihm
selber große Hilflosigkeit und Ohnmacht auslöste (157f) - hier
kann sich der Leser identifizieren. Das 4. Kapitel ist die Mitte
des Buches. Es referiert „Beiträge der Bewältigungsforschung
für das Verständnis von Verarbeitungsprozessen in Krankheit
und Sterben" (88ff). Sie helfen, sich von dem starren „Phasen"-
Schema bei E, Kübler-Ross zu lösen und dienen einer differenzierteren
Wahrnehmung. „Damit wird eine vorschnelle, häufig
negative Wertung ... schwer verständlichen Verhaltens vermieden
und die damit üblicherweise verbundene Blockierung einer
guten und persönlichen Kommunikation zwischen dem Patienten
und seiner Umwelt im Krankenhaus verhindert" (100). Im
5. Kapitel teilt der Vf. Ergebnisse einer Befragung von Krebspatienten
mit, die er selber durchgeführt hat. Sie zeitigt wichtige
Ergebnisse, z.B., „daß erstaunlich viele Patienten über die
Bedrohlichkeit ihrer Erkrankung recht genau im Bilde sind"
( 126), Das hat Auswirkungen auf die „Wahrheit" am Krankenbett
, wobei die Wahrheit weniger die Mitteilung einer Diagnose
als ein „kommunikatives Geschehen" ist (82). Das schmerzlich
fühlbare Defizit kommunikativer Kompetenz bei allen helfenden
Berufen (auch bei Seelsorgerinnen und Seelsorgern)
läßt den „Handlungsbedarf in der Sterbebegleitung" dringlich
erscheinen. Der Vf. weist auf eine Reihe von „Modclle(n) zur
Praxisanleitung im klinischen Bereich" hin (167IT). Für Seel-
sorgerinnen und Seelsorger hilfreich sind die Ausführungen
..Pastorale Hilfen im Sterben" (174ff) mit den beiden Beispielen
, „wie schnell die traditionellen Erklärungsversuche an der
konkreten Leidenssituation des einzelnen an ihre Grenze Stessen
" (181f). Verkündigung wird als „Beziehungsgeschehen"
mit Hilfe der Emmausgeschichtc (Lk24) entfaltet. Hinweise
auf „Aus- und Weiterbildungsangebotc im pastoralen Bereich"
beschließen das Buch (19311

Der Abschnitt „Die Bedeutung des Glaubens für die Betroffenen
" (1381) ist mir zu kurz geraten. Hier wäre eine Klärung,
was „Glaube" ist, notwendig - Gesprächsbeispiele wären hier
sicher hilfreich. Immerhin ist in diesem Zusammenhang die
Beobachtung aufschlußreich, „daß kirchliche Bindung und Bedeutung
des persönlichen Glaubens keineswegs identisch sind"
(1390.

Ich vermisse in dem Buch einen Abschnitt über die „Sprache
der Sterbenden" - eine Quelle von zahlreichen Mißverständnissen
und Kommunikationsstörungen zwischen Sterbenden und
ihrer Umgebung.

Der Rez. gesteht gern, daß er angesichts der Flut von Literatur
über Sterben und Sterbebegleitung nur zögernd zu neuen
Publikationen auf diesem Gebiet greift. Das vorliegende Buch
hat er gern gelesen. Er hat daraus gelernt und kann es nur wei-
terempfehlen.

Hannover Hans-Christoph Piper

Winkler, Klaus: Werden wie die Kinder? Christlicher Glaube
und Regression. Mainz: Grünewald 1992. 156 S. 8». Kart.
DM 32,-. ISBN 3-7867-1480-0.

Werden wie die Kinder - ist der Impuls Jesu eine schlichte
Aufforderung zur Regression? Hätte denn Freuds Kritik der Religion
als der „Erneuerung der infantilen Schutzmächtc" recht?
Oder könnte man das Jesuswort auch konstruktiv verstehen. Hesse
sich die psychoanalytische Religionskritik modifizieren? Auf
Grund reicher pastoraler und therapeutischer Erfahrung (Fall-
Beispiele im letzten Teil belegen es) bemüht sich Winkler um
eine integrative Sichtweise der Regressionsthematik, die den
pastoralen und den psychologischen Aspekt gleichermaßen umfaßt
. Dabei gehl es ihm trotz aller fachwissenschaftlichen Differenziertheit
nicht um rein akademische Argumentation, sondern
„darum, sich einzumischen und so aktiv wie möglich dabei /u
sein, wenn entscheidende Lebensfragen zur Debatte stehen" (8).
Das Ziel ist der echte, unsentimentale Glaube, der im Dienst der
Realitätsbewältigung s bzw. der Lebensgestaltung steht. Diese
Grundaufgabe des Menschen zwischen Herkommen („ich komme
, und weiß nicht woher") und Zielstrebigkeit („ich gehe, und
weiß nicht wohin") ist nur individuell zu lösen (W. spricht darum
gern vom „persönlichkeitsspezifischen Credo"); sie ist belastet
durch das gegenwärtig verbreitete Katastrophengefühl, die
„Angst mit ungeklärtem Realitätsbezug" (34). W. beschreibt drei
Reaktionsweisen bzw. Bewältigungsvcrsuehe („Angstlust" im
Sinn G. Balints, Wahnbildung als apokalyptische Phantasie. Erneuerungsimpulse
z.B. der Charismatischen Bewegung oder der
Geistlichen Gemeinde Erneuerung, die aber aufgrund ihrer Exklusivität
scheitern). Als letzter (Schein)-Ausweg bietet sich die
Regression als Flucht aus der Realität an.

Wie verhält sich in dieser Spannung der Christenglaube1' Die
Zumutung, wie die Kinder zu werden, scheint die Regressionstendenz
zu fördern. Von dieser Seheintendenz (bösartige
Regression) ist allerdings eine spezifisch christliche Gelassenheit
zu unterscheiden. Diese Gelassenheit wurzelt in der
Grund-Lage menschlicher Existenz, die sich in der Situation
des Säuglings manifestiert: dem Angewiesensein bzw. Anspruch
auf Zuwendung und Zuspruch. Auf ihrem Hintergrund
sieht W. den springenden Punkt in der Kompromißfähigkeit:
Der Christ soll nicht nur Kind, sondern auch erwachsen werden
; er ist „teils Erwachsener, teils Kind und sollte diese verschiedenen
Teile seiner selbst möglichst harmonisch zu vereinigen
lernen" (63).

Diese Spannung könnte im Sinne von G. Bateson als Beziehungsfalle
gesehen werden (zwei verschiedene Forderungen
ein und desselben Glaubens widersprechen sich), es sei denn
sie würde als Zumutung eines umfassenden Von-vorn-Begin
nens erlebt. Die spezifisch christliche Dankbarkeit würde sich
dann darauf beziehen, dieser Herausforderung als Aufgabe gewürdigt
zu sein.

Darum muß jeweils darüber nachgedacht werden, welcher
Art von Regressivität die individuelle Frömmigkeit im Moment
erliegt; sie bedarf einer ständigen kritischen Begleitung. Religiosität
ist jedenfalls nicht einfach als realitätsflüchtige Regressivität
zu bezeichnen, sondern steht selbst im Zeichen der Ambivalenz
. Das Ziel ist, Regressionvorgänge handhaben zu lernen
, das Loslassen zu üben, Umgangsformen mit der Kalastro-
phenangst zu entwickeln, die nicht nur beruhigen, sondern „die
Bewältigungschancen erhöhen" (113). Das bedeutet den Verzicht
auf Nostalgie, Verzicht auf Teilnahmeverweigerung, Verzicht
auf oberflächliche Vertröstung. Es bedeutet auch einen
neuen Umgang mit der Religionskritik, die dort echt ist, wo sie
irritiert und schmerzt und darin innovativ wirkt: denn „es läßt
sich noch immer etwas ändern" (122).

So gewinnt die Psychologie für einen gesunden Glauben ki i
tisch-konstruktive Funktion; umgekehrt ist sie selbst der Kritik