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Ausgabe:

1993

Spalte:

364

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Unablässig leidet mein Herz 1993

Rezensent:

Piper, Hans-Christoph

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363

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 4

364

nungsbogen, der von der Aufklärung - wo nicht schon von der
griechischen Antike - bis in die Gegenwart reichend, dem
Traum von der Entwicklung des Menschen zu einer immer vernünftigeren
, gesünderen und glücklicheren Verfassung praktische
Geltung verschaffte - mit den grauenvollen Folgen der
Ausgrenzung und Ausmerzung.

Auch Eduard Seidler, Ordinarius für Geschichte der Medizin,
spitzt seinen Bericht „Euthanasie im Alltag. Das Beispiel Freiburg
" auf die Gegenwart hin und auf die Einsicht zu, daß der
„Wunsch nach einem gesunden, physisch und psychisch unbeschädigten
, wenn möglich einem besseren, einem ,neuen Menschen
'...die ganze Menschheitsgeschichte durchzieht" (46) und
„daß unerwünschtes oder potentiell leidvolles Leben in zunehmend
fragloser Weise nicht mehr akzeptiert werden will, wie
die Zahlen aus den Beratungsstellen zeigen" (47). „Deutlich
wird... der Anspruch an die Medizin, für immer weniger, aber in
jedem Fall gesunde Kinder zu sorgen." Die unmenschliche
Euthanasie-Praxis des NS-Regime deutet Seidler als Hinweis
auf das, „was geschieht, wenn der mit allen Hoffnungen und
Vorurteilen beladene Umgang des Menschen mit seinem
eigenen Menschenbild zur politischen, wissenschaftlichen und
technischen Disposition gestellt wird und wenn diese Machtpotentiale
ineinandergreifen." Er folgert daraus: „Wir Deutsche
haben das makabre Privileg, dafür zu sorgen, daß Menschenwürde
und Menschenrecht nicht wieder zum Kalkül politischer
Macht werden oder aber von einem ungebremsten Wissenschaftszynismus
überrollt werden" (48).

Der theologische Beitrag von Ottmar Fuchs „Leben mit psychisch
kranken Menschen im Horizont christlicher Theologie"
benennt als Kriterien der Diakonie (I.) 1. die radikale Trennung
von Krankheit und Schuld, 2. die unendliche Würde jedes Menschen
in der Praxis Jesu, 3. den augenscheinlichen Respekt Jesu
„vor der inhaltlichen Kompetenz gerade derer..., die von der
Majorität nicht für inhaltlich kompetent gehalten werden" (62)
und 4. die Bestimmung des Verhältnisses von Hilfsbedürftigen
und Helfern als „Patientenkollektiv" (66). Auf diesem Hintergrund
denkt er über „Gemeindebildung in Diakonie" (II.) nach.
Die Urteile über die sozialen Differenzierungsvorgänge in diesem
Teil festigen allerdings einen gängigen Trend zur Uberforderung
der Kirchengemeinde. Vgl. S. 68: „Durch diese Privatisierung
und Professionalisierung des Leidens auf die kleinsten
(und oft auch schwächsten) Sozialgebilde bzw. auf die überregionalen
Diakonieeinrichtungen geschieht so etwas wie eine
durchaus akzeptierte Enteignung bezüglich der ganz natürlichen
diakonischen Kompetenzen aller Menschen... Bei dieser Überlegung
... geht es um das Votum, daß zwischen den Familien
und den Wohlfahrtsverbänden Sozialformen zu entdecken und
aufzubauen sind, in denen die nichtprofessionelle Fähigkeit der
Menschen zum bekömmlichen Umgang mit Betroffenen gefragt
ist und sich entfalten kann."

Im vierten Beitrag berichtet Dorothea Buck unter dem Titel
„Was gilt der Mensch? Antwort einer betroffenen Zeitzeugin"
von ihren Erfahrungen mit der unmenschlichen NS-Psychiatrie
bis hin zu Zwangssterilisation, der sie unterworfen wurde und
protokolliert den abwehrenden Umgang mit der verbrechensbelasteten
Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland bis
1980. Sie vermag dabei auch die Besonderheit schizophrenen
Erlebens plastisch zu schildern. Um so mehr bleibt die Frage:
Warum kommt in einem insgesamt so verdienstvollen Heft die
Betroffene erst am Schluß zu Wort? War es die Bescheidenheit
von Dorothea Buck - oder doch die Position der nicht-wissenschaftlichen
Frau?

Stuttgart Reinhard Schmidt-Rost

Richter, Klemens [Hg.J: „Unablässig leidet mein Herz".

Christliche Verkündigung angesichts von Trauer und
Angst. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1992. 176 S. 8«. Kart.
DM 24,80. ISBN 3-451-22287-6.

Wie... kommt in der Verkündigung unserer Gemeinden der
Umgang mit einer Trauer, die sich zunächst nicht auf die Trauer
angesichts des Todes bezieht, zum Ausdruck?" Der Hg. hat Texte
und Predigten gesammelt unter dem Gesichtspunkt, daß sie
„Betroffenheit der Autoren spüren" lassen und „Zeugnisse eigenen
Glaubens und durchlittener Trauer" sind (10). Das Buch
umfaßt 37 Beiträge, eingeteilt in 4 Kapitel: I. Christliche Trauer -
Hoffnung im Widerstand; II. Zu Worten der Schrift; III. Zu
Schriftlesungen der Sonntage; IV. Trauer im Lichte von Ostern.

Die einzelnen Beiträge, die - jeder für sich genommen - in
einer Rezension nicht zu würdigen sind, gehen von den unterschiedlichsten
Trauer-Situationen aus: Eine Frau, die aus gesundheitlichen
Gründen in den vorzeitigen Ruhestand treten
mußte; der Frust eines Jugendlichen, der während des Golfkrieges
an der Sinnlosigkeit des Lebens verzweifelt; Erfahrungen
des Alterns; seelische Erkrankung; Trauer einer Mutter um den
Verlust des Glaubens ihrer Kinder; die Trauer „über den Gottesverlust
" bei Religionslehrerinnen und -lehrern; Trauer über
den Verlust eines (adoptierten) Kindes; Trauer um den Zustand
der Kirche - dies nur als Beispiele.

Der fast durchgehende Bezug auf biblische Texte bringt es
mit sich, daß in vielen Beiträgen der Tenor vorherrscht: „Die
Bibel sagt uns ..." (23). Das Schriftstellenverzeichnis (174)
weist aus, daß Psalmen, (Deutero-)Jesaja und der 2. Korinther-
brief besonders häufig vorkommen. Im letzten Kapitel finden
sich drei Predigten allein über die Emmausgeschichte (Lk 24).

Einige Texte lassen aufhorchen: „Der Trauer ihre theologische
und anthropologische Würde zurückzugeben, wäre ein Akt
rettender Kritik am Christentum" (Johann Baptist Metz, 32),
oder die Predigt am Karsamstag von Rolf Zerfaß: „...die Abwesenheit
Jesu zu(zu)lassen. Und damit den Tod und die Abwesenheit
Gottes in der Welt. Ist sie nicht unsere zentrale Erfahrung
?" (155).

Aufrüttelnd ist der Beitrag von Norbert Greinacher: „Trauer
muß Europa tragen" mit seiner scharfen Kritik des „christlichen
Triumphalismus" anläßlich des 500. Jahrestages der Landung
von Columbus in Lateinamerika (38).

Ausgesprochen seelsorgerliche Texte kommen von Frauen.
Die Krankenhausseelsorgerin Ingrid Reckziegel führt uns behutsam
in das Gleichnis von den zehn Jungfrauen (Mt 25) ein, indem
sie uns in das Jungfrauenportal des Magdeburger Doms hineinstellt
: Ich bin „herausgefordert, beide Seiten anzuschauen und
hindurchzugehen, um hineinzukommen... Dann erscheinen mir
die Figuren wie Momentaufnahmen der Trauerphasen bis hin
zum befreienden Lachen" (139). Und Teresa Berger spricht au
Hand von Ps. 30 vom „Kleiderwechsel vom Trauergewand in ein
Tanzkleid, den Gott hier für die Zukunft verspricht" - ein einprägsames
, tröstliches Bild.

Die beiden eindrücklichsten Texte sind zugleich die kürzesten
: Ernst Tewes' „Trauer über die Leidensgeschichte dieses
Jahrhunderts" (50) - ein Stück eigener Lebensgeschichte angesichts
des Kreuzwegs, und Marielene Leists Gedanken zu Jes.
40,1: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott". Die Betroffenheit
dieser beiden Menschen macht selber betroffen und
tröstet zugleich.

Die Frage am Anfang dieses Buches lautete: Wie kommt in
der Verkündigung der Umgang mit Trauer zum Ausdruck?
Nach der Lektüre drängt sich die Antwort auf: Nur selten gelingt
es, die eigene Betroffenheit in Sprache zu fassen. Das ist
der Grund dafür, daß die Hörer und Hörerinnen der christlichen
Verkündigung oft trostlos bleiben.

Hannover

Hans-Christoph Piper