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Ausgabe:

1993

Spalte:

362-363

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Was gilt der Mensch? 1993

Rezensent:

Schmidt-Rost, Reinhard

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 4

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und Gesellschaft zu vermitteln. Doch heute drohen die Orientierung
am Wohlstand und an westlichen Vorbildern der Kirche
, „daß sie mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben
wird wie heute die westliche Kirche" (130). Eindrucksvoll
schildert M. Hainz die Dimensionen des Flüchtlingsproblems
in Europa (156-169), wobei auch von dem Standpunkt der
katholischen Soziallehre die „eurozentrische Sichtweise" der
schwerwiegendste Mangel europäischer Asylpolitik ist. In
einem dritten Teil werden methodische Ansätze einer erneuerten
katholischen Soziallehre diskutiert- bis hin zu einer „Theologie
von unten", die von den konkreten Lebensumständen an
der Basis her argumentiert und handelt.

Der Band dokumentiert neben der Vielfalt der sozialen Probleme
zugleich die Offenheit der Katholischen Soziallehre,
auch bisher in der Tradition vernachlässigten Themen nachzugehen
und nach ungewohnten Wegen zur Klärung zu suchen.

Rostock Joachim Wiebering

Wadell, Paul J.: The Primacy of Love. An Introduction to the
Ethics of Thomas Aquinas. New York-Mahwah: Paulist Press
1992. IV, 162 S. 8°. ISBN 0-8091-3225-7.

Die thomanische Tugendethik hat zur Zeit in der nordamerikanischen
katholischen Theologie Hochkonjunktur (vgl. William
C. Spohn, Current Theology. Notes on Moral Theology:
1991: The Return of Virtue Ethics, in: Theological Studies 53,
1992, 60-75). Aber nicht nur katholische Theologen, sondern
auch Philosophen wie Alasdair Mclntyre beschäftigen sich zunehmend
mit Thomas von Aquin. Selbst von reformierter Seite
wird inzwischen vereinzelt vehementes Interesse an Thomas
angemeldet (Arvin Vos, Aquinas, Calvin and Contemporary
Protestant Thought, Grand Rapids 1985). Bemerkenswerl ist
nicht nur die Anzahl der in Nordamerika publizierten Arbeiten
über Thomas von Aquin, sondern auch deren z.T. hohe Qualität
.

Die Rezeption eines Klassikers lebt nicht nur von Spezialstu-
dien, sondern auch von auf stärkere Breitenwirkung angelegten
Publikationen. Zu den letzteren gehört das Buch des in Chicago
(Catholic Theological Union) lehrenden Paul J. Wadell, der es
sich zum Ziel gesetzt hat, ein möglichst zugängliches Buch über
die Ethik des Thomas von Aquin zu schreiben (5). Er verzichtet
dabei fast gänzlich auf den Beizug von Sekundärliteratur (zitiert
werden vor allem James A. Weisheipl und Josef Pieper) und
konzentriert sich auf eine Darstellung des zweiten Teiles der
Summa theologiae, der die Rückkehr des Menschen zu Gott
durch Handlungen thematisiert. Im Zentrum der Erörterungen
stehen die Tugenden, die als "strategics of love whereby those
devoted to God are transformed in God's goodness" (1) interpretiert
werden. Treffend wird in der Einleitung festgehalten, "that
for Aquinas the moral life begins in gilt and ends in gilt" (4).

Nach einer kurzen Skizze der persönlichen Züge des Aqui-
naten werden im ersten Kapitel der Aufbau der Summa theologiae
und die Bedeutung der Form der disputatio kurz dargestellt
. Thema des zweiten Kapitels ist die allgemeine Struktur
menschlichen Handelns. Zentral sind darin die Aussagen, daß
unsere Intentionen nicht nur unsere Handlungen, sondern auch
uns selbst formen (33) und daß das vollkommen Gute, das
Endziel unseres Lebens, nicht unter Überspringung der Dinge
dieser Welt, sondern durch sie wahrgenommen wird (41). Im
dritten Kapitel wird gezeigt, daß die Glückseligkeit, die alle
wollen, im Zugang zum schlechthin Guten (Gott) besteht, das
um seiner selbst willen angestrebt wird und die Macht versöhnender
Gnade besitzt (51). Im vierten Kapitel wird die Gemeinschaft
des Menschen mit Gott als Freundschaft präzisiert, die
die Momente des Wohlwollens, der Gegenseitigkeit der Liebe

und der Ähnlichkeit mit Gott enthält. Im fünften Kapitel wird
der Primat der Liebe im Rahmen der thomanischen Lehre von
den menschlichen Leidenschaften erörtert. Hier wird die Bedeutung
des Zieles für das menschliche Handeln hervorgehoben
: Unsere Aktivität beginnt damit, daß wir von einem Ziel
angezogen werden, so daß unser Handeln wesentlich durch seinen
Antwortcharakter ausgezeichnet ist (82). Genau die Wirkung
, die jemand erleidet, wenn etwas anderes auf ihn einwirkt,
ist mit dem Begriff der Leidenschaft (passio) gemeint. Die erste
Wirkung eines „Gegenstandes" auf uns ist die Liebe, das Wohlgefallen
, das uns zu allen anderen Leidenschaften erst befähigt
und uns grundsätzlich zu allem Guten öffnet. Wadell formuliert
das Entscheidende prägnant: "We are made to reeeive some-
thing. This is the heart of Aquinas's anthropology" (84). Weil
der Mensch ein Wesen ist, das sich erst auf dem Weg zur Vollendung
befindet und sich mannigfach verirrt, muß uns die Liebe
von Grund auf verändern, damit wir zum Ziel gelangen können.
Damit wird der zutiefst positive Sinn des Verständnisses der
Liebe als „Leidenschaft" deutlich (90-92). Im sechsten Kapitel
wird ausgeführt, wie aus der Liebe die verschiedenen Leidenschaften
des Konkupisziblen (Liebe, Verlangen, Freude, Haß,
Abscheu, Traurigkeit) und des Irasziblen (Hoffnung, Verzweiflung
, Mut, Angst, Zorn) entstehen. Im siebten Kapitel wir die
Notwendigkeit der Tugenden erörtert, die ihren Sitz in den verschiedenen
Vermögen des Menschen haben und eine „/weite
Natur" gewähren (116). Im achten Kapitel werden die vier Kardinaltugenden
(Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhaltung
'temperantia') und die drei theologischen Tugenden
Glaube, Liebe und Hoffnung (Gaben des Heiligen Geistes) dargestellt
. Im neunten Kapitel betont Wadell noch einmal den
Primat der Liebe, der Mutter aller Tugenden.

In Wadells Buch kommt vorzüglich zum Ausdruck, daß die
Tugendlehre des Thomas eine großangelegte Theorie der Um-
wandelbarkeit des Menschen durch die Gnade Gottes ist (114)
und daß das Wesentliche christlicher Ethik darin besteht, daß
wir uns immer neu unter verschiedensten Umständen dieser
Gnade ganz einfach aussetzen. Das Buch eignet sich gut als erste
Einführung in die thomanische Ethik.

Bern Martin Bieler

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Axtmann, Heinz, u. Ursula Bernauer [Hg.]: Was gilt der
Mensch? Anfragen an Geschichte und Gegenwart der Psychiatrie
. Freiburg/Br.: Kath. Akademie der Erzdiözese Freiburg
1991. 95 S. 8° = Tagungsberichte der Kath. Akademie
der Erzdiözese Freiburg. ISBN 3-928698-01-X.

Aus Anlaß des „zehnjährigen Bestehens der Diözesanar-
beitsgemeinschaft Katholischer Einrichtungen für psychisch
kranke und behinderte Menschen in Freiburg" beschäftigen
sich die vier Beiträge dieses Heftes mit einer Grundfrage aller
solcher Institutionen in der Gegenwart: Wie können die „Utopie
vom immer gesunden und leistungsfähigen Menschen" und
der Wunsch nach „einer leidensfreien Zukunft der Gesellschaft
", so entschärft werden, daß die Suche und Sucht nach
Verfügung über menschliches Leben nicht länger dominiert
über die Anerkennung des Existenzrechts jedes Menschen (11).

Der Psychiater Klaus Dörner skizziert unter dem Titel „Vernichten
oder Begegnen. Der NS-Mord in der Psychiatrie als
Anfrage an unser Bild vom Menschen" den geistigen Span-