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Ausgabe:

1993

Spalte:

348-350

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ernst, Norbert

Titel/Untertitel:

Die Tiefe des Seins 1993

Rezensent:

Fischer, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 4

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und dialogische Kompetenz der Kirche als Institution und der
Christen als mündige Bürger im Gemeinwesen zu stärken?
Oder ist sie der bloße Reflex einer Theologenuntugend? Die
Untugend besteht darin, bei der ansonsten höchst wichtigen und
notwendigen Rezeption von Kategorien und Perspektiven der
Geistes- und Sozialwissenschaften mitunter derart vorbehaltlos
in das nichttheologische Lager hinüberzurennen, daß dies einem
Verrennen gleichkommt. Jedenfalls steht mir kein Beispiel
nichttheologischer (Auto-)Biographieexegese vor Augen, das so
unbeirrbar alles Persönliche an einem Menschen tilgt, wie es
Maaser am „Fallbeispiel" Künneth tut. Die vorliegende Studie
erschreckt mich nicht wegen der These, in Künneths Autobiographie
(Lebensführungen. Wuppertal 1979) ereigne sich, wenn
man sie nur richtig lese, die unfreiwillige Selbstentblößung
einer notorisch vom Autoritarismussyndrom durchdrungenen
Persönlichkeit. In Grenzen hält sich das Erschrecken auch darüber
, was der Vf. über Künneth im Dritten Reich mitzuteilen hat.
Denn hier weiß die kirchliche Zeigeschichtsforschung (deren
Ergebnisse vom Vf. nur sporadisch genutzt werden) insgesamt
mehr und Genaueres als Maaser. Gleich gar kein Erschrecken
stellt sich ein, wenn man breit dargelegt bekommt, daß zwischen
den Tatsachen und ihrer autobiographischen Darstellung
deutliche Diskrepanzen bestehen („Verzerrte Perspektiven" -
140ff). In welcher Autobiographie wäre das nicht der Fall?
Autoren von Lebenserinnerungen, die den Ehrgeiz haben, zwischen
Erinnerung und Tatsachen eine historisch hieb- und stichfeste
„Konkordanz" herzustellen, bemühen bei der Abfassung
ihrer Autobiographien entweder die Archive oder den Rat kundiger
Fachleute. Ein solcher Autobiograph ist Künneth nicht.
Und was die (apologetische?) Verzeichnung der Zeitgenossenschaft
angeht, so ist in Kritiken der „Lebensführungen" bereits
mehrfach darauf hingewiesen worden. Das Erschrecken gilt der
Art, wie der Vf. das Anliegen durchzusetzen versucht, dem er
sich verpflichtet weiß. Hat der Analytiker des „Fallbeispiels"
Künneth keinen Sinn dafür, daß die Anwaltschaft für das Humanuni
, für die Demokratie und die civil society unter dem
Gebot jener Tugenden steht, die sie verteidigt? Man mag gegen
Walter Künneth haben, was man will; ihn unter rigider Ausgrenzung
seiner Individualität einer am Modell der „flexiblen
Typik" (101) orientierten Strukturanalyse zu unterwerfen, nein,
ihn auf den Operationstisch zu schnallen, verkehrt die gute Absicht
ins Gegenteil. Künneth ist nicht nur ein „Fall" für ein im
Individuum präsentes kollektives Ordnungsmuster, nicht nur
Mikrorealität, an der eine Makrorealität sichtbar wird, er ist
auch ein Mensch. Und für diesen gilt: Individuum est incffabile.
Ich halte Maasers Buch für eine unfreiwillige Warnung vor sozialwissenschaftlichem
Technokratentum.

Anerkennenswert ist die Studie in jenen Überlegungen, die
auf den stärkeren Konnex von theologisch-ethischen Aussagen
mit der gesellschaftlichen Empirie drängen und die das „Problem
der ungeklärten Präferenzen von Theologen" (15) zum
Thema haben. Durch theologischen Dezisionismus wird die
Schere zwischen Empirie und Theologie nicht geschlossen. In
dieser Hinsicht wäre Künneths politische Ethik übrigens noch
sehr viel genauer zu studieren, als es bei Maaser geschieht. Der
in der Ekklesiologie an W. Huber (Kirche und Öffentlichkeit.
Stuttgart 1973) und in der Sozialethik an Ernst Wolf angelehnte
Vorschlag des Vf.s, Perspektiven einer „theologischen Sozialhermeneutik
" zu entwickeln, deren Grundgebote methodisch in
der soziologischen Selbstüberwachung von Theologie und Kirche
und sachlich im Umgang mit der prozeßhaften Verwandlung
von Identität bestehen, bietet allerdings nichts umwerfend
Neues.

Die größere Problemlinie (Vergewisserung über die systematischen
Bedingungen ethischer Urteilsfindung bei gleichzeitiger
Aufhellung der außertheologischen Einflußfaktoren) und die
kleinere Problemlinie (der „Fall Künneth" als negatives Lern-

beipsiel) sind bei Maaser von Anfang bis Ende ineinander verschränkt
. Dadurch erweist sich die Studie als ein Zwitter. Möglich
geworden ist die Verschränkung durch (scheinplausible)
Analogien. Etwa so: die ckklesiologische Spannung von Universalität
und Partikularität der Kirche zeige sich auf der Ebene
des Individuums als Selbstkonflikt der Identität. Der große kritische
Meister des Vf.s ist Adorno (Studien zum autoritären
Charakter. Frankfurt/M. 1973). Die in Maasers Buch am häufigsten
gebrauchten Begriffe heißen Autoritarismus, Anpassung
, autoritärer Persönlichkeitstypus, Modernisierungsasyn-
chronie usw. Der Nationalsozialismus firmiert konsequent als
„Faschismus". Seltsam, wie das Jagen nach sozialwissenschaftlicher
Modernität den derzeit wirklich modernen Diskursen hinterherhinkt
.

Leipzig Kurt Nowak

Systematische Theologie: Dogmatik

Ernst, Norbert: Die Tiefe des Seins. Eine Untersuchung zum
Ort der analogia entis im Denken Paul Tillichs. St. Ottilien:
EOS Verlag 1988. XIII, 222 S. gr.8° = Fuldaer Studien, 2.
Lw. DM 58,-. ISBN 3-88096-442-4.

Parallel zur Auseinandersetzung der evangelischen Theologie
mit dem philosophisch-theologischen Lebenswerk P. Tillichs
befindet sich die katholische Theologie seit drei Jahrzehnten in
einem erstaunlich intensiven und engagierten Gespräch mit Tillich
. Dieses Interesse hat sich sogar in editorischen Bemühungen
um Tillichs Werk niedergeschlagen, wie die Herausgabc
der Marburger Dogmatik-Vorlesung Tillichs von 1925 durch
Werner Schüßler zeigt (Düsseldorf 1986). Als weiteres Beispiel
solch eines kontinuierlichen Dialogs darf die mit beeindruckender
Sachkenntnis und großer Offenheit für die Intentionen der
philosophischen Theologie Tillichs geschriebene und von der
Philosophischen Hochschule der Jesuiten in München als philosophische
Dissertation angenommene Monographie von N.
Ernst gelten. Gegenstand der Untersuchungen ist das, gemessen
am terminologischen Befund, von Tillich nur beiläufig erörterte
Thema der analogia entis. Demgegenüber dient die Arbeit dem
Nachweis, daß die vergleichsweise schmale Textbasis über die
Bedeutung, die die analogia entis für Tillichs System hat, hinwegtäuscht
. Das Ziel der Arbeit kommt im Titel und Untertitel,
die sich wechselseitig erläutern, zum Ausdruck. Tillichs Verständnis
von der „Tiefe des Seins" erschließt sich mittels seiner
Rezeption der klassischen Lehre von der analogia entis. und
diese Lehre ist umgekehrt überall präsent, wo Tillich die Strukturen
des Seins thematisiert und überhaupt vom Sein spricht.
„Die These der vorliegenden Arbeit ist die Behauptung einer
unthematisch, implizit gegebenen Anwesenheit des Analogieprinzips
in Tillichs Denken, von dem her es beleuchtet und in
seiner Grundintention einsichtig gemacht werden kann" (2).

Diese These wird in vier Teilen mit jeweils zwei Kapiteln der
Bewährung ausgesetzt. Der einführende I. Teil (5-36) informiert
über die Grundzüge der Lehre von der analogia entis und
über die darauf bezogene protestantisch-katholische Kontroverse
, die sich vor allem an Barths provozierendem Dictum entzündet
hatte, er „halte die analogia entis für die Erfindung des
Antichrist", deretwegen man nicht katholisch werden könne.
Barths Aufstellungen über diese Lehre werden als Konstruktion
und Mißverständnis zurückgewiesen (III.). Die Darlegungen
von E. Przywara, der den Begriff der analogia entis in die kontroverstheologische
Diskussion eingeführt hatte, ergeben ein
anderes Bild. Tillich nimmt nach Meinung des Vf.s eine Son-