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Ausgabe:

1993

Spalte:

337-339

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Autor/Hrsg.:

Maser, Peter

Titel/Untertitel:

"Berathung der Armuth" 1993

Rezensent:

Schicketanz, Peter

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Theologische Literaturzeitung 1 18. Jahrgang 1993 Nr. 4

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Schweiz, 17-114); 2. einer Darstellung der kirchengeschichtlichen
Entwicklung seit der Reformation (Rudolf Dellsperger,
Staat, Kirche und Politik im Kanton Bern von der Reformation
bis in die Mitte des 20. Jhs., 115- 183); 3. theologischen und
grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Kirche und
Staat (Walter Stähelin, Kirche und Staat in theologischer Sicht,
185-211; Felix Hafner, Kompetenzen für kirchliche Stellungnahmen
zu politischen Fragen, 213-219); 4. schließlich der
Entfaltung der rechtlichen Beziehungen zwischen den beiden
Institutionen (Johann Georg Fuchs, Staat und Kirche in ihren
Rechtsbeziehungen. Teil I, 221-239; Felix Hafner, Teil II, 241-
280). Die Zusammenfassung nimmt einzelne Gedanken aus
den Abschnitten 2 bis 4 auf, basiert jedoch im wesentlichen auf
den Ausführungen des ersten Beitrages.

Damit ist die Grenze des vorliegenden Bandes markiert.
Denn so interessant, auch anregend die zuletzt genannten Aufsätze
sind, sie tragen kaum etwas zur Erhellung des vorangestellten
Themas bei. Im direkten Bezug hierauf zeichnet dagegen
Peter Gilg die europaweiten mentalen und gesellschaftlichen
, die kulturellen und kirchlichen Veränderungen in den
Schweizer und insbesondere den Berner Kontext ein. Auch hier
veränderten die Auf- und Umbrüche in den sechziger Jahren
tiefgreifend die Szenerie, lockerten sich die Bindungen an die
Kirchen, wurde die Gesellschaft säkularer und pluraler, dominierten
politische und vor allem sozialethische Themen und
Probleme. Die daraus erhobenen Konsequenzen muten dann in
der Zusammenfassung (281-286) freilich entweder recht allgemein
an - oder sie begegnen unvermittelt, nicht aufgrund von
argumentativen Explikationen. Sicherlich haben auch die Kirchen
Anteil an den Integrationsproblemen sämtlicher großer
Institutionen. Und fraglos sind die allermeisten sozialethischen
Herausforderungen heute viel zu komplex, als daß sie sich auf
ein einfaches Pro oder Contra reduzieren ließen. Aber wie verträgt
sich mit diesen Beobachtungen die betonte Feststellung,
der Staat benötige eine lebensfähige Kirche, weil diese die
grundlegenden Werte und Gesinnungen schaffe und stabilisiere
? Daß die Kirche weder die Dienerin noch auch die Herrin
des Staates sein wolle, sondern sein Gewissen, bezeichnet gewiß
eine treffliche Position. Nur hätte der Leser darüberhinaus
gern gewußt, wie das denn eine Kirche zu realisieren gedenkt,
in der (wie zuvor ausführlich beschrieben) die unterschiedlichsten
politischen und gesellschaftlichen Standpunkte Heimatrecht
beanspruchen - und offenbar auch haben. Ob sich der
Berner Große Rat mit der hier vorgetragenen allgemeinen Antwort
zufrieden geben konnte?

Gießen Martin Greschat

Maser, Peter: „Berathung der Armuth". Das soziale Wirken
des Barons Hans Ernst von Kottwitz. zwischen Aufklärung
und Erweckungsbewegung in Berlin und Schlesien. Frank-
furt/M.-Bern-New York-Paris: Lang 1991. 239 S. 8« = Forschungen
zur Praktischen Theologie, 10. Kart. DM 69,-.
ISBN 3-631-43679-3.

Es handelt sich um den Druck des anderen Teils der in Münster
1987 angenommenen Habilitationsschrift über Kottwitz
(vgl. die Rez. über den 1. Teil in dieser Zeitschrift 1991, 441).
Mit der gleichen umfangreichen Einarbeitung in die Quellen
wird das soziale Engagement des frommen Barons dargestellt.
Wiederum ist wie in den andern Bereichen dieses Lebenslaufes
der mühsame Weg zu beschreiten, aus den Reaktionen anderer
die Spuren seiner Mitarbeit abzulesen. Allerdings hat Kottwitz
1809/10 einige Schriften und Aufsätze insonderheit über seine
so/ialen Anschauungen hinterlassen, auf die sich die Forschung
stützen muß, aber allein schon die Tatsache, daß seine

lebenslangen Bemühungen nur aufgrund von wenigen Schriften
aus zwei Jahren zu beurteilen wären, läßt Vorsicht angezeigt
sein. Die Erforschung des Briefbestandes (das bereits im
anderen Buch veröffentlichte Briefregister der 281 gefundenen
Briefe wird nochmals abgedruckt, 217-232) ermöglicht einige
Ergänzungen.

Im einzelnen geht es um die auf Kottwitz' Initiative zurückgehende
„Berliner Freiwillige Beschäftigungsanstalt" (13-66),
die „Spinnanstalt" in Grüssau in Schlesien (67-88), seine Beteiligung
bei der Gründung neuer Kirchengemeinden im nördlichen
Teil Berlins (89-116) und seine Mitwirkung bei der Besserung
des Gefängniswesens (117-134). Während in den ersten
beiden Bereichen die Initiative des Barons klar ist, ist die Mitwirkung
in den anderen Fällen nicht so umfangreich. Vollends
schwierig wird es beim Abschnitt über die Kinderarbeit (135-
150), wo außer einer Notiz in einem Dokument der Berliner
Regierung, daß Kottwitz eine „Anregung" gegeben habe (139).
nichts gefunden werden konnte. So dürftig immer wieder der
Quellenbestand für Kottwitz selbst ist, so interessant und vielschichtig
sind die Informationen, die Maser aus dem Umfeld
zur Sprache bringt und ausführlich zitiert. Dadurch gelingt im
historischen Vorfeld der „Inneren Mission" eine eindrückliche
Darstellung der Problemlage zwischen 1806 und ca. 1840. Für
die Berliner Kirchengeschichte stecken ebenfalls allerlei nützliche
Informationen.

Der theologie- und sozialgeschichtliche Ertrag der Darstellung
ist im zweiten Teil des Buches „über das soziale Wirken
zwischen Aufklärung und Erweckungsbewegung" (151-200)
zu finden. Hauptthese Masers ist: „Der soziale Impetus von
Kottwitz stammt nicht aus der Erweckungsbewegung, sondern
aus der Aufklärung." (175) Seit Tholuck sei das immer wieder
behauptet worden. Angefangen von nicht direkt nachweisbaren
Einflüssen aus der Freimaurerei in Hamburg (163) versucht
Maser nun alles anzuführen, womit Kottwitz als Anhänger aufklärerischer
Sozialanschauungen hingestellt werden kann. Ich
halte dies für eine Überzeichnung. Z.B. ist die Hochschätzung
des Wertes der Arbeit kein Spezifikum der Aufklärung (169).
Der lutherische Pietismus ist nach wie vor gerade in der Verbindung
mit preußischen Staatstugenden ebenfalls maßgeblich.
Auch die Verbindung zur Brüdergemeine (178f) würde ich
anders einschätzen. Die Grundidee, daß das Gemeinwesen und
nicht die Kirche Aufgaben in der Armenfürsorge hat, ist keine
rein aufklärerische Idee. Sie ist schon bei Spener da. Natürlich
meldet sich hier ein umgreifenderes Problem: die Verflechtungen
von Aufklärung und Pietismus sind verwickelter als das
späteren Wissenschaftlern lieb ist. Die theologische Kritik an
der Aufklärung bei Kottwitz, die Maser durchaus auch darstellt
(154), darf m.A.n. nicht als „peripher" (175) abgetan werden.
Daß die Unterschiede zu Wichern in der Bewertung der Kirche
herausgearbeitet werden, soll damit nicht hinterfragt werden.

Der Titel „Berathung der Armuth" benennt ein Hauptstichwort
des Barons. Die Erläuterung seines Programms (151-161)
sind auch für heutige Fragestellungen der ertragreichste Abschnitt
des Buches. Kottwitz: „Berathung der Armuth erfordert
konsequente Beachtung der Armen und thätig zweckmäßige
Vorkehrungen, damit jede thätige Hand zur Thätigkeit veranlaßt
werde." (156) Aus der Beachtung erwächst die Notwendigkeit
, den Menschen Arbeit auch jenseits wirtschaftlicher
Überlegungen zu verschallen und damit letztlich Verantwortung
und Selbstachtung der Armen zu bewirken. Armut wird
nicht als Makel verstanden, sondern „ist derjenige Zustand, in
welchem es dem Mensehen unmöglich fällt, sein Durchkommen
selbst zu beschaffen." Kottwitz sieht die Not und Ausbeutung
. 1827 charakterisiert er Arme als „von der Intelligenz der
Zeit so fast zertretene Menschen" (153). Sein Programm der
Bcschäftigungsgesellschaft erinnert an heutige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
. Maser fragt zu Recht am Ende des Buches.