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Ausgabe:

1993

Spalte:

329-334

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Henricus Gandavensis, Summa 1993

Rezensent:

Hoffmann, Fritz

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 4

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kennzeichnend sind, fehlen bei ihm. Eine Ausnahme bilden die
Wunder; aber auch sie stehen in engem Zusammenhang mit
Bernhards Beredsamkeit (vgl. bes. 271-274, 282-286). Sonderbarerweise
geht die Vfh. nicht genauer auf den Punkt ein, an
dem innerliehe Religiosität in die Äußerung umschlägt, obwohl
ihr das entscheidende Moment bekannt ist: „Als das wesentliche
Bindeglied des Übergang vom Selbst zum Außen des
Nächsten stellt sich das Element der Fülle dar... Das Motiv der
überfließenden Fülle verweist aber auch auf die Struktur des
Übergangs als eines Prozesses, der eher erfahren wird, als daß
er der menschlichen Steuerung unterliegt." (I 15) Auch die biblische
Metapher für den Vorgang des Umschlags in die Aktivität
, das .Aufstoßen' (ruetare. von der Vfh. fälschlich als „Erbrechen
" gedeutet), erwähnt sie nur kurz (ebd.). Da sie den
Erfahrungsbegriff meidet, bleibt der tiefste Quellpunkt aller religiös
motivierten Aktivitäten in der vorausgehenden religiösen
Erfahrung verborgen. Die sekundären Motivationen werden
freilich ausführlich und lehrreich behandelt. In geduldigen,
sorgfältigen und verständnisvollen Analysen und Interpretationen
der Texte gelingt es der Vfn., eine Fülle von Gesichtspunkten
- darunter auch bisher weniger beachtete - zu erschließen,
die hier nicht im ein/einen genannt werden können. Darüber
hinaus enthält ihre Untersuchung wichtige Ausführungen über
Bernhards Christologie und Geschichtsverständnis.

Im ganzen bietet das fleißige Buch - nicht zuletzt durch seine
unkonventionellen Fragestellungen und Siehtweisen - eine gewichtige
Bereicherung der Bemhardliteratur. Einige sprachliche
Mängel, Lücken in der Bibliographie und viele Druckfehler
, besonders auch in den Literaturangaben, können seinen
Wert nicht wesentlich schmälern.

Tübingen Ulrich Köpf

Henrid de Gandavo: Summa (Quaestiones ordinariae) art.
XXXI- XXXIV. Ldidit R. Macken. Cum Introductione generali
ail editionem criticam Sununae a L. Hödl. Leuven: Uni-
versity Press 1991. CLVIII, 266 S., 8 Taf. gr.8« = Ancient
and Medieval Philosophy. De Wulf- Mansion Centre. Series
2, XXVII.

Der Stellenwerl, den Heinrich von Gent bis vor kurzem in
der Forschung hatte, entspricht - bei aller Würdigung der bisher
erschienenen Arbeiten - nicht seiner Bedeutung in der Geschichte
der scholastischen Philosophie und Theologie. Der
Grund dafür ist leicht einsichtig: Iis fehlte die notwendige
Grundlage. Eine zusammenhängende kritische Edition seiner
Werke suchte man vergebens. Zwar hatten die Franziskaner
von St. Bonaventure bereits vor vier Jahrzehnten in dem Nachdruck
der Summa Quaestionum einen ersten Schritt getan.1
Doch diese Wiedergabe des ersten unkritischen Druckes von
1520 ist als Grundlage für die heutige Forschung völlig unzureichend
. Daher war der Historiker gezwungen, auf die handschriftlichen
Quellen zurückzugreifen.

Auch in den gängigen Lehrbüchern der Geschichte der Philosophie
(und Theologie) des Mittelalters nahm Heinrich von
Gent nur einen im Vergleich zu seiner Bedeutung bescheidenen
Platz ein. Die folgenden Beispiele bringen nur eine Auswahl
und beschränken sich in der Mehrzahl auf den deutsch-
Sprachigen Raum. In dem Werk von Ueberweg-Geyer wird
Heinrieh - allerdings ausführlieh - unter den Magistern des
Weltklerus an der Universität Paris zum Ende des 13. Jh.s be-

Henry of Ghent. Summa Quaestionum orilinariarum (Reprint of the
1520 Edition). Vol. l-ll. Franciscan Institute Publications. Text Ser.5. St.
Bonaventure (N.Y. USA) 1953.

Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie. Zweiter

handelt.2 Die Beurteilung seiner Lehre bei den Historikern,
auf ilie verwiesen wird, ist sehr unterschiedlich, ja gegensätzlich
. Sic reicht von der Einstufung in den Realismus bis zum
Konzeptualismus. Er gilt aber bei allen als Verfechter eines
neuen Augustinismus, als Thomas-Kritiker und als Wegbereiter
des Duns Scotus. Die dort zitierten Belege aus den Werken
Heinrichs stammen zumeist aus den älteren Drucken. J. Hirsch-
berger erwähnt Heinrich von Gent unter den ersten Thomas-Kritikern
/ In dem Gemeinschaftswerk Böhner-Gilson: Christliche
Philosophie, wird Heinrich in einer Rolle der Hinführung zu der
Lehre des Johannes Duns Scotus gesehen.4 Hier finden wir das
lobende Wort: ..Heinrich von Gent...ist unstreitig der bedeutendste
unter den Großen seiner Zeit."'5

Zwar knapp, aber auf sehr interessante Einzelaspekte eingehend
nimmt Heimsoeth unseren Magister in sein Lehrbuch der
Philosophie auf." Er sieht die Bedeutung Heinrichs in der philosophischen
Einmahnung der Individualität und in der Lehre
von der Spontaneität des Willens, in beiden Punkten ein Wegbereiter
des Duns Scotus.7

Weit ausführlicher werden Persönlichkeit und Wirken Heinrichs
in dem Werk von Etienne Gilson: History of Christian
Philosophy in the Middle Ages gewürdigt.8 Gilson widmet ihm
einen eigenen Paragraphen9 und listet im Anhang seines Werkes
das Quellenmaterial und die Forschungen über unseren
Magister auf.'" Er stellt Heinrich in die geistesgeschichtliche
Entwicklung des Übergangs vom Platonismus-Augustinismus
zum Aristotelismus-Thomismus. Heinrich ist damals wohl der
Prätendent der Kritik an Thomas von Aquin. Sein Verständnis
vom Begriff der Unendlichkeil als Gottesprädikation bereitet
die entsprechende Lehre des Duns Scotus vor: .Unendlichkeit'
ist entgegen seiner begrifflichen Formulierung keine Negation,
sondern eine positiver Begriff. Die augustinische Illuminationsichre
erfährt durch Heinrieh eine Erneuerung und wirkt
dank seiner Autorität bis ins 14. Jh. hinein. Nur im göttlichen
Licht kann die Wahrheit - auch der Welt und deren Dinge -
vollkommen erkannt werden. Diese für die Lehre Heinrichs
wesentlichen Feststellungen trifft Gilson gestützt auf das ihm
vorliegende Material der gedruckten Quellen und der Forschungen
. Vorwegnehmend kann jetzt schon gesagt werden,
daß die neue Edition die bisherigen Forschungen, unter denen
die von Gilson am weitesten vorn liegen, präzisieren, erweitern
, manche auch korrigieren, alle aber zu neuen Ergebnissen
führen wird.

Die nun in Angriff genommene kritische Edition stellt die
Forschung über Heinrich von Gent nämlich auf eine neue, solide
Grundlage. Getragen wird diese Edition vom Institut für
Philosophie (Institute of Philosophyl der Katholischen Universität
Löwen (Katholieke Universiteit Leuven) und vom dortigen
De Wulf-Mansion-Zentrum. Damit ist garantiert, daß die
Aufgabe in den Händen hervorragender Editoren und Fachkräfte
liegt. Die Drucklegung nimmt die erfahrene und angesehene
Leuven University Press vor (Avant-Propos, S.V). Unter dem
Titel: Henrici de Gandavo Opera Omnia sind (mindestens) 34

Teil: Die patristischc und scholastische Philosophie, hg. von B. Geyer. Berlin
1928, 497-502; 764f.

* Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Altertum und Mittelalter
. Basel-Freiburg-Wien 81965, 526.

4 Philotheus Bonner - Etienne Gilson. Christliche Philosophie (von ihren
ihren Anfängen bis Nikolaus von Cues). Paderborn 21954. 537.

5 Ebd.

" Wilhelm Windelband. Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, hg.
von H. Heimsoeth. Tübingen 151957, 271, 283, 291f.

7 AO 271,291.

8 Etienne Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Age.
New York (Random House) 1955.

9 AO 447-454.

10 AO 759-762.