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Ausgabe:

1993

Spalte:

322-324

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wainwright, Elaine Mary

Titel/Untertitel:

Towards a feminist critical reading of the gospel according to Matthew 1993

Rezensent:

Schottroff, Luise

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Theologische Literaturzeitung I 18. Jahrgang 1993 Nr. 4

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„kann man in den Synagogen vermuten, während die Beamten
(sc. städtische Mandatsträger mit unterschiedlicher Amtsgewalt
) offensichtlich eine forensische Rolle im Gefährdungszu-
sammenhang der Bekenner spielen" (90).

Das damit angedeutete Beziehungsgeflecht wird in § 2 zunächst
hinsichtlich der „Rolle der Synagogen" geklärt. Die im
jüdischen Land erfolgenden negativen Maßnahmen gegen
Christen gehören für Lukas der Vergangenheit an. Was er dagegen
über Maßnahmen von Diasporasynagogen berichtet -
verbale Angriffe, illegale Anschläge, Vertreibung, Aufwiegelung
der heidnischen Bevölkerung, Anzeigen -, reflektiert Erfahrungen
der eigenen Zeit. Die heidenchristlich geprägte luka-
nische Kirche erfährt die Synagogen nicht forensisch. Weil
Christen von heidnischer Seite mit dem Judentum identifiziert
werden, distanziert sich das Judentum der Diaspora von den
Christen in der Öffentlichkeit der Polis. Ultima ratio solcher
Distanzierung sind Anzeigen bei der heidnischen Obrigkeit.

In § 3 erhellt St. die „Hintergründe der Konflikte zwischen
Christen und Juden zur Zeit des Lukas", um das distanzierende
Verhalten der Diasporasynagogen gegenüber den Christen „aus
vitalen und objektiven Interessen" (147) einsichtig zu machen.
Er nennt dafür drei Motive. Das zuerst angeführte politische
geht vom messianischen Selbstverständnis der Christen aus. Ihr
Messiasbekenntnis war antirömisch interpretierbar - das spiegelt
sich im lukanischen Doppelwerk mehrfach wider -, und sie
selbst konnten als jüdisch-messianischc Partei verstanden werden
. In der antijüdischen Stimmung nach 70 n.Chr. und angesichts
römischer Befürchtungen vor einem neuen Aufflammen
des jüdischen Widerstandes ist die Distanzierung von Juden
gegenüber Christen eine politische Schutzmaßnahme. Das Verhalten
der alexandrinischen Juden gegenüber den Sikariern und
der Juden in der Cyrenaica gegenüber dem Weber Jonathan
sind sprechende Analogien. Das an zweiter Stelle genannte soziale
Motiv bezieht sich auf christliche Bekehrungserfolge
unter den gesellschaftlich einflußreichen „Gottesfürchtigen",
wodurch Einflußmöglichkeiten und damit vitale Interessen von
Diasporasynagogen beeinträchtigt wurden. Die Darstellung des
religiösen Motivs schließlich hat ihre Anhaltspunkte an den
Vorwürfen christlicher Gegnerschaft zu Tempel und Tora sowie
an der programmatischen Einbeziehung der Heiden. St.
macht es wahrscheinlich, daß der hellenistische Reformversuch
nach 175 v.Chr. den hermeneu tischen Schlüssel für die jüdische
Kritik bot, der die Kirche als vom Judentum abgefallene
Bewegung verstehen ließ.

In § 4 fragt St. nach den Erfahrungen der lukanischen Christenheit
mit staatlichen Instanzen. Er präzisiert die Annahme,
daß an eine Verbindung strafrechtlicher Vorwürfe mit administrativem
Vorgehen zu denken ist. In Act werden die Christen
mit bestimmten Verbrechensvorwürfen belastet, die eine Beziehung
zum Judentum zeigen. Das wird an vier Texten differenziert
ausgeführt (19,23ff; 16,9ff; 17,6f; 18,12ff). Dabei stellt
St. die „Hintergründe der Konflikte" (Zusammenfassung 265f)
anschaulich heraus und verortet sie in der Zeit Domitians.
Anzeigen betrafen „allgemein die Störung öffentlicher Ordnung
" und „speziell ...Verletzungen des paganen Kultes" sowie
„Propaganda bzw. Übernahme .jüdischer Lebensweise' und
damit den Vorwurf der &o£ßetCt im Sinne von jmpietas' (Act
16; 18) bzw. Hochverrat (Act 17)" (266).

M.E. ist es St überzeugend gelungen, die Erfahrungen von
Christen, wie sie sich im lukanischen Doppelwerk widerspiegeln
, herauszuarbeiten und ihre Situation „zwischen Synagoge
und Obrigkeit" präzis zu beschreiben. Meine Frage wäre, ob
sich diese C hristen näher bestimmen lassen. St. spricht von
.jener christlichen Gemeinschaft oder Gemeinschaften, die der
Verfasser des lukanischen Doppelwerks vor Augen hatte und
die wir abkürzend als lukanisehe Christenheit bezeichnen werden
" (II). Er schreibt dann auch von „lukanischen Christen"

und der „lukanischen exnXraia' Sollte es sich dabei nicht weniger
um die „christlichen Zeitgenossen" des Lukas überhaupt
(7) - schon gar nicht um eine bestimmte Gemeinde - als vielmehr
um eine bestimmte Schicht von Christen mit gehobenem
Sozialstatus handeln? Auf sie weist St. selbst hin, wenn er im
Blick auf Act 16 „die spezifischen Erfahrungen römischer
Christen bzw. von Christen mit römischem Bürgerrecht oder
besonderen Loyalitätsverpflichtungen gegenüber Rom" erwägt
(224) und bemerkt, „daß die Denunziation von Christen wegen
jüdischer Lebensweise' vor allem jene unter den Christen gefährden
konnte, deren Loyalität zur römischen Herrschaft
durch die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft in Frage
gestellt wurde. In ausgezeichneter Weise würde dann der Apostel
Paulus die tragische Frontstellung solcher Christen zwischen
Judentum und Rom repräsentieren" (225; vgl. 267).

Zu ihnen gehörte offensichtlich auch der Verfasser des lukanischen
Doppelwerks; und diese Zugehörigkeit ist nicht ohne
Einfluß auf seine Wahrnehmung und Darstellung der von Ro?n
bestimmten politischen Wirklichkeit. Zu seinen „christlichen
Zeitgenossen" zählte auch der Apokalyptiker Johannes, der
eine signifikant andere Wahrnehmung und Darstellung derselben
Wirklichkeit erkennen läßt. Die von St. in der „historischen
Einordnung" (248-267) mehrfach vorgenommene problemlose
Nebeneinanderstellung von lukanisehem Doppelwerk
und Apokalypse finde ich ebenso wenig überzeugend wie die
knappe Bestreitung politischer Apologetik bei Lukas, wo die
These, Lukas biete insgesamt eine günstige Darstellung Roms,
auf zwei Seiten dreimal als „schwerlich richtig" bezeichnet
wird (31 f).

Angemerkt sei auch noch, daß es mir fraglich erscheint, den
Christenbrief des Plinius so stark als historische Zäsur zu betrachten
, wie St. es tut (z.B. 263). Denn obwohl Plinius nach
seiner Aussage bis dahin noch nicht an Christenprozessen beteiligt
war, schlägt er doch in aller Selbstverständlichkeit ein
Verfahren ein, das nicht erst seine Erfindung sein kann, sondern
schon traditionell sein muß. Im Zusammenhang der Konflikte
mit der heidnischen Obrigkeit wäre auch die Bezeichnung
xyicmavot zu bedenken.

Die gestellten Anfragen betreffen nicht die Hauptaspekte des
Buches von St., das ohne Zweifel die Erforschung der historischen
Situation des lukanischen Doppelwerkes entschieden
vorangetrieben hat.

Bochum Klaus Wengst

Wainwrijiht, Elaine Mary: Towards a Feminist Critical Rea-
ding of the (Jospcl aecording to Matthew. Berlin - New
York; de Gruyter 1991. XXIII, 410 S. gr.8« = Beihefte zur
Zeitschrift für die neutcstamentlichc Wissenschaft, 60. Lw.
DM 160,-. ISBN 3-11 - 012860-8.

Dieses Buch ist als Ph. D. Dissertation in Queensland geschrieben
worden. Die Autorin ist in der neueren Frauenbewegung
und der mit ihr verbundenen feministisch-theologischen
wissenschaftlichen Arbeit zu Hause. Sie ist weiterhin in der traditionellen
neutestamentlichen Wissenschaft der westlichen
Welt zu Hause. Die Dissertation versteht sich als Gesprächsbeitrag
zu beiden Forschungsbereichen. Sie setzt eine konstruktive
Beziehung zwischen beiden Bereichen als selbstverständlich
voraus, auch wenn sie Ergebnisse traditioneller Evangelienforschung
einer feministischen Kritik unterzieht, einen
grundlegenden Paradigmenwechsel in der theologischen Wissenschaft
für notwendig hält und die Kirche der Zukunft als
„Frauenkirche" versteht. Die matthäische Vision von ekklesia
versteht sie entsprechend zu dieser Vorstellung von Frauenkirche
als „inklusiv" (z.B. 355). Inklusivität ("Inclusion") ist ein