Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1993

Spalte:

316-318

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Niebuhr, Karl-Wilhelm

Titel/Untertitel:

Gesetz und Paränese 1993

Rezensent:

Merk, Otto

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

315

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 4

316

einem veränderten methodischen Grundansatz, der jeweils die
Behandlung der beiden Themenbereiche bestimmt.

Die Arbeit der Neutestamentier mit rabbinischen Quellen aus
wesentlich jüngerer Zeit ging von der Voraussetzung aus, daß
auch spät Belegtes dank des schriftgelehrten Traditionsprinzips
für eine frühe Zeit (so für die Zeit Jesu) herangezogen werden
kann. Seitdem J. Neusner die jüdische Traditionsliteratur formkritisch
bearbeitet und die Ereignisse im Gefolge des Jahres 70
n.Chr. als eine Scheidelinie begriffen hatte, schmolz das quellenmäßig
Gesicherte dahin.

Für die in dieser Untersuchung angesprochenen Probleme
bedeutet das: Der in Jabne obsiegende Pharisäismus ist keineswegs
die dominierende Erscheinung in der Jesuszeit, sondern
eine Richtung neben anderen, in deren Spannungsfeld sich das
Wirken Jesu ereignet. Die am-ha-arez sind keine kompakte
Gruppe, gleichsam das religiöse Proletariat Palästinas, vielmehr
eine der Abgrenzung dienende idealtypische Gegenfigur zu den
Gesetzestreuen aus späterer talmudischer Zeit, der in der neute-
stamentlichen Periode jener schwer definierbare Teil der jüdischen
Gemeinschaft entsprach, der es in den Fragen des Zehnten
und der Speisereinheit nicht so genau nahm wie die Pharisäer
und deshalb zu deren haburot nicht zugelassen wurde. Für
den Begriff des Sünders in der Umwelt Jesu halte man sich statt
an die rabbinischen Zeugnisse an die chronologisch und literarisch
besser zu erfassende intertestamentarische Literatur (Apokalypsen
, PsSal), aus der hervorgeht: Der Sünder ist die Gegengestalt
zum Gerechten, sie treten nach ethischen Gesichtspunkten
auseinander (84).

Für die Einordnung dieses Ergebnisses in die Evangelienforschung
und den Umgang mit dem Lukasevangelium in dieser
Arbeit ist eine weitere methodische Kehre von Bedeutung. An
die Stelle der literarischen Analytik und der form- bzw. redaktionsgeschichtlichen
Konstruktion ist für den Autor die literaturwissenschaftliche
Betrachtungsweise getreten. Das Lukasevangelium
erscheint dem Genre der Konfliktgeschichte zugehörig,
steht im Zeichen des Kampfes von Gut und Böse, die gute Seite
wird durch Jesus vertreten, die böse verkörpern (gemäß der
Situation zur Abfassungszeit nach 70) die Pharisäer. Die Differenz
zwischen historischem Faktum und ideologischer Signifikanz
scheint zu einer geschichtsskeptischen Sicht zu führen, die
dem Dualismus von Geschehen und Deutung bei den kontinentalen
Formgeschichtlern nicht nachsteht.

Die „zentrale Sektion" (cap. 5-19) ist in der Frage des Verhältnisses
Jesu zu den Sündern im Zeichen einer sich steigernden
Linie konzipiert. Das versucht der Vf. an den detailliert
behandelten Sünderperikopen 5,27-32; 7,36-50; 15; 18,9-14;
19,1-10 zu zeigen. Von Anfang an geht es - hier liegt ein
Hauptanliegen des Vf.s - beim Ruf an die Verlorenen nicht um
Auflösung der Ethik. Schon in 5,32 klingt leitmotivisch auf:
Die Gerechten werden nicht ausgeschlossen, die Sünder werden
eingeschlossen (130). Höhepunkt sei die Zachäusperikope, die
als Realentsprechung für das im Gleichnis 18,9-14 Erzählte verstanden
wird. Dort sei Sünder Prototyp dessen, der gerechtfertigt
erscheint (173), hier jener, der sich selbst demütigt und tätige
Bekehrung übt (187).

Besondes in den letzten Abschnitten berührt sich die Arbeit
eng mit den von ganz anderen methodischen Voraussetzungen
und theologischen Bewertungen beherrschten Studien von Luise
Schottroff, in denen sie der Gestaltung der Jesusüberlieferung
durch Lukas als Zeugnis für eine postpaulinische Soterio-
logie dargestellt hatte. Die Rückfrage hinter Lukas zurück nach
Jesus, nach den ipsissima facta, unter denen die Zuwendung zu
den Sündern oben ansteht, bleibt freilich dennoch unabgegol-
ten.

Halle (Saale) Wolfgang Wiefel

Niebuhr, Karl-Wilhelm: Gesetz und Paränese. Katechismusartige
Weisungsreihen in der frühjüdischen Literatur. Tübingen
: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1987. IX, 275 S. gr. 8« =
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2.
Reihe 28. br. DM 98,-. ISBN 3-16-145232-1.

In vorliegender Dissertation, unter der Betreuung von T. Holtz
gefertigt und im W.S. 1985/86 von der Theol. Fakultät der Mar-
tin-Lulher-Universität Halle-Wittenberg angenommen, gehl es
K.-W. Niebuhr, im folgenden Vf., um den Nachweis katechismusartiger
Reihungen in der frühjüdischen Literatur als Aufweis
dessen, wie im Alltagsleben des Diasporajudentums „Gesetz und
Paränese" ebenso glaubensverbunden wie gegenwartsnah Gestalf
finden. Welches Gewicht solche Überlegungen als Beitrag zur
Vorgeschichte neutestamentlicher Paränese haben, liegt auf der
Hand, auch wenn Vf. bewußt allein frühjüdisches ,Material' heranzieht
. Forschungsgeschichtlich kann er in seiner Untersuchung
an ein Grundanliegen Alfred Seebergs anknüpfen, auch wenn
sich dessen These von einem jüdischen Proselytenkatechisnnis
als Fiktion erwies.

Die Durchführung (und damit auch der Nachweis des mate-
rialen Gehaltes) geschieht in drei Schritten:

In einem ersten Teil der Untersuchung werden drei, nach Vf.
in der anstehenden Sachfrage traditionsgeschichtlich vergleichbare
frühjüdische Schriften („Pseudo-Phokylides und die Gesetzessammlungen
bei Philo, Hypothetika, und Josephus, contra
Apionem") darauf geprüft, inwieweit in ihnen gemeinsame,
katechismusartige Reihen vorliegen 5-72). Sorgfältige Ein/.el-
nachweisungen ergeben, daß PseuPhok den Inhalt seiner Weisungen
im vorliegenden „Mahngedicht" auf wenige, aber einschlägige
Kapitel im Pentateuch beschränkt. „Diese Toragebote
erscheinen allerdings bei PseuPhok in einer stark umgestalteten,
interpretierten und aktualisierten Form" (31). - Bei Philo und
Josephus lassen sich einerseits die einschlägigen Paränesen
relativ eng begrenzt auf Toragebote zurückführen, andererseits
aber ergibt sich bei ihnen eine beachtenswerte Weitung: „Als
jüdisches Gesetz bezeichen" sie „sowohl Toragebote als auch
frühjüdische ethische Weisungen als auch Gebote ursprünglich
nichtjüdischer Herkunft" (57). Die eruierten katechetischen
Reihungen bei den drei Autoren lassen ebenso darauf schließen,
daß sie aus einem (gewissen) zu vermutenden „Fonds ethischer
Weisungen" ihr Material schöpften, wie aber auch erheben, daß
diese Reihungen / Sammlungen nicht zu missionarischen Zwek-
ken im heidnischen Umfeld dienten, „sondern eher auf die Glieder
der jüdischen Diasporagemeinde zugeschnitten" waren
(56ff.68ff.f72: Zitat]), um ihnen den Willen Gottes im Alltag
vor Augen zu stellen.

Der zweite Teil gilt der anstehenden Fragestellung in den
„Testamenten der Zwölf Patriarchen", in denen in besonders
vielfältiger Weise ..katechismusartige Gesetzesparänese" zu ermitteln
ist (73-166). Auf diese Intention ist im folgenden der
Blick zu richten, denn die notwendig vom Vf. behandelte Entstehungsgeschichte
der TestXII läßt durchaus eine Reihe von
Rückfragen im Bereich der (hier komplizierten) Einleitungs-
wissenschaft zu. Die insgesamt erörterten 13 Abschnitte aus 8
verschiedenen Testamenten bringt nicht nur den Nachweis der
genannten Reihen (158). Es lassen sich diese inhaltlich näher
skizzieren und auch charakteristisch ein ausgeprägtes Indikativ-
Imperativ-Verhältnis aufdecken (154IT.). Die Reihungen selbst
sind (oftmals) von ihrem Kontext abgehoben, jedoch nicht so.
daß eine prinzipielle Unterscheidung zwischen konkreten Verhaltensweisen
und „abstrakten Haltungen" möglich wäre (163;
die Frage nach einem Bezug von ,usueller' und .aktueller' Paränese
, die sich nahelegt, wird vom Vf. nicht aufgegriffen; ob
einige der Reihungen sekundär in schon vorhandene Texte eingefügt
sind, ist vielleicht offener, als Vf. aufgrund seiner literar
kritischen Entscheidungen zubilligt; der Anachronismus, daß