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Ausgabe:

1993

Spalte:

313-314

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Texte und Träume 1993

Rezensent:

Theißen, Gerd

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313

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 4

314

ne Einseitigkeit liegt in der Ausblendung aller historischen und
theologischen Aspekte. So kann der Vf. zu radikalen Alternativen
gelangen (vgl. oben zu 80), die nur innerhalb dieser Engführung
verständlich erscheinen. Daß der Evangelist natürlich
auch den Leser im Blick hat, ist keine grundsätzlich neue Erkenntnis
. Daß man aber dieses Beziehungsgeflecht erhellen
kann, ohne weder nach der vom Erzähler aufgegriffenen Tradition
noch nach der beim Leser vorauszusetzenden Situation zu
fragen, bleibt problematisch genug. Darüber hinaus mag man
fragen, ob es begrifflich wirklich sinnvoll ist, von der „Rhetorik
" eines schreibenden Erzählers zu reden.

Greifswald Günter Haufe

Lüdemann, Gerd: Texte und Träume. Ein Gang durch das
Markusevangelium in Auseinandersetzung mit Eugen Drewermann
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992. 280 S.
8» = Bensheimer Hefte, 71. Kart. DM 29,80. ISBN 3-525-
87159-7.

E. Drewermann hat mit einer Kombination von tiefenpsychologischer
Exegese und schroffer Polemik gegen die historisch
-kritische Exegese einen erstaunlichen Erfolg. Um so erfreulicher
ist es, daß ein Vertreter der angegriffenen akademischen
Exegese das Gespräch mit ihm aufnimmt. Gegenstand
dieser Auseinandersetzung ist E. Drewermanns Kommentar
zum Markusevangelium 1987/1988.

Das Buch hat eine allgemein gehaltene Einleitung, in der
Drewermanns Theologie und Ort in der Kirche bestimmt wird.
Der Haupttteil besteht in einem Gang durch das Markusevan-
gelium, bei dem zu jeder Perikope zunächst die Verarbeitung
der historisch-kritischen Exegese bei Drewermann diskutiert
wird, darauf dessen tiefenpsychologische Deutung. Mit großer
Geduld folgt L. seinem Gesprächspartner, konfrontiert seine
Auslegung immer wieder mit dem konkreten Text - in einer
deutlichen Bereitschaft, sich neuen Einsichten zu öffnen. Offen
bekennt er sich zu seinem „Angerührtsein von mancher dieser
Interpretationen" (274). Das Buch ist zweifellos ein Beitrag zur
Versachlichung des Gesprächs mit Drewermann.

Dabei ist das Ergebnis weithin negativ. Die Kritik lautet: 1.
Drewermanns Exegese widerspricht immer wieder konkreten
Zügen im Text oder geht über den Textbefund hinaus. 2. Das
Verhältnis von Symbol und historischer Wirklichkeit bleibt
ungeklärt. Oft wird beides kontrastiert, gleichzeitig soll durch
Symbole die eigentliche historische Wirklichkeil zugänglich
werden. 3. Ein unerfreulicher Antijudaismus verzerrt bei Drewermann
das Bild der jüdischen Religion, insbesondere das
Bild der Schriftgelehrten und der Thora. Das Judentum wird
zum Medium, in das Drewermann seine Kirchen- und Theologiekritik
hineinprojiziert. 4. Die konkrete historische, soziale
und politische Well des antiken Urchristentums bleibt ausgeblendet
. Dem entspricht, daß Drewermanns Menschenbild keinen
Raum für den sinnvollen Ort von Institutionen und Recht
läßt.

Ein paradoxes Ergebnis ist von L. nicht gewollt. Seine Kritik
zeigt m.E., daß Drewermann ein Kind der Exegese ist, die bis
in die 70er Jahre hinein vorherrschend war: 1. Eine von exi-
stenzialer Interpretation und neuer Hermeneutik bestimmte
Exegese entfernte sich manchmal in nicht minder abenteuerlicher
Weise vom Text wie Drewermann. 2. Das Verhältnis von
Kerygma und Geschichte blieb in der Exegese damals genauso
ungeklärt wie das Verhältnis zwischen Symbol und Wirklichkeit
. Die von L. gegen Drewermann geltend gemachte Frage:
..Welchen Sinn haben Aussagen, die wahrscheinlich historisch
falsch, aber symbolisch wahr sein sollen?" (250) läßt sich
mutatis mutandis auch zur kerygmatheologischen Exegese formulieren
. 3. Ein unerfreulicher Antijudaismus beherrschte viele
Publikationen jener Zeit. 4. Die Ausblendung der konkreten historischen
, sozialen und politischen Realität war im Zeichen
einer existenzialistischen Exegese fast Programm. Kurz: Drewermann
scheint mir nach der Lektüre des Buches von L. in
weit größerem Maße ein Kind der „modernen" Exegese zu
sein, als Drewermann lieb ist. Daß manche Kinder zum Aufstand
gegen ihre Väter neigen, ist bekannt.

Aber auch hier wäre der Gegensatz zu relativieren. L. konfrontiert
Drewermanns Exegese vor allem mit R. Bultmanns
Geschichte der synoptischen Tradition von 1921. Dadurch wird
m.E. undeutlich, wie sehr Drewermann allgemeinen Tendenzen
der neueren Exegese nach R. Bultmann zuzuordnen ist.: 1. Die
diachronische Schichtenanalyse von Texten wird heute weithin
durch Interpretation des kohärenten Textes (zumindest als Korrektiv
) ergänzt. Wir zweifeln, ob der Sinn eines Textes durch
seine Schichten konstituiert wird. 2. Überall läßt sich eine grössere
Sensibilität für die Bildlichkeit biblischer Texte beobachten
. Mythos und Metaphorik wurden zu wichtigen Themen der
Exegese - unabhängig von Drewermann. 3. L. macht dagegen
deutlich, daß sich auch die akademische Exegese in vorsichtiger
Weise textpsychologischen Interpretationen öffnet, also Interpretationen
, welche sich auf Texte und nicht auf „Archetypen
" hinter den Texten beziehen. L. entwickelt selbst keine
entsprechende Methodik, die er Drewermann entgegensetzen
könnte. Als Beispiel für einen m.E. gelungenen Versuch einer
textpsychologischen Exegese des MkEv darf ich auf Th. Vogt:
Angstbefähigung und Identitätsbildung im Markusevangelium.
Diss. Heidelberg 1992 (erscheint in NTOA) hinweisen.

Bei aller berechtigter Kritik an Drewermann hält L. in vorbildlicher
Fairneß daran fest, daß seine Auslegungen eine Fülle
brauchbarer homiletischer Ideen enthalten. Man kann das Buch
als sachlichen Beitrag zum exegetischen Gespräch empfehlen -
und hätte nur gewünscht, daß es sich stilistisch von der umständlichen
Art exegetischer Bücher etwas mehr gelöst hätte.

Heidelberg Gerd Theißen

Neale, David A.: None but the Sinners. Religious Categories in
the Gospel of Luke. Sheffield: JSOT Press 1991. 217 S. 8° =
Journal for the Study of the New Testament, Suppl.Series, 58.
Lw. £ 22.50.

Daß Lukas das Evangelium der Sünderliebe Jesu ist, war
dem Bibelleser von jeher vertraut. Von der Forschung ist dieser
Aspekt in den letzten Jahrzehnten zugunsten des heilsgeschichtlichen
Konzepts im lukanischen Werk zurückgetreten.
Die vorliegende Arbeit, als Dissertation aus Sheffield in der
Tradition angelsächsischer Exegese stehend, teilt diesen ge-
schichtstheologisch bestimmten Ansatz nicht und versteht sich
darüber hinaus in zweifacher Hinsicht als Korrektiv. Die von
Joachim Jeremias aus rabbinischen Quellen gewonnene Betrachtungsweise
, nach der Sünder zur Zeit Jesu eine religiössoziologische
Kategorie sei, die definiert werde durch die Zugehörigkeit
zu bestimmten Berufen und aus kultisch-rituellen
Gründen ausgegrenzten Gruppen, ist weithin akzeptiert. Das
darauf beruhende, vor allem von Lukas gezeichnete Bild des
Wirkens Jesu, das ihn im durchgängigen Konflikt mit den Pharisäern
darstellt, erscheint auch historisch unangefochten.

Das eine wie das andere sieht der Autor als problematisch
an, und so versucht er neue Antworten auf die beiden Fragen
zu geben, die je einen Hauptteil seiner Arbeit beherrschen: Wer
waren (zur Zeit Jesu in Palästina) die Sünder (1 1-99)'? Wie
stellt Lukas das Verhältnis Jesu zu ihnen dar (100-149)? Sieht
man genauer hin, so ergeben sich die neuen Antworten aus