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Ausgabe: | 1993 |
Spalte: | 311-313 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Fowler, Robert M. |
Titel/Untertitel: | Let the reader understand 1993 |
Rezensent: | Haufe, Günter |
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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 4
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(C) Die dritte Studie behandelt das zentrale theologische Thema
, das „Messiasgeheimnis" - u.zw. anhand einer vorzüglichen
Auseinandersetzung mit H. Räisänen, gegen den der redaktionelle
organische Zusammenhang von Parabeltheorie, Schweigegeboten
und Jüngerunverständnis erfolgreich verteidigt wird.
Der Vf. sieht in der Frage nach der Identität der Hauptperson
das Zentrum. Diese Frage lasse sich erst nach der Auferstehung
beantworten. 9,9 ist so für ihn die entscheidende Aussage.
Hier gibt es aber durch den offenen Schluß des Mk (16,8) ein Problem:
Die Auflösung des Geheimnisses der Person ist auch in 16,8 nicht beantwortet
. Eine Erscheinung des Auferweckten wird nicht mehr erzählt, ein
„Sehen" wird nur in Aussicht gestellt, u.zw. mit dem Hinweis auf Galiläa.
Der Leser soll offenbar das Geheimnis selbst auflösen. An den Vf. wäre
dabei auch die Frage zu stellen, ob die Esoterik sich nur auf die Christologie
und nicht auch auf die Eschatologie bezieht (Mk 4,11).
(D) Die vierte Studie ist eine Auseinandersetzung mit der
zunehmend beliebter werdenden Deuteromarkus-Hypothese als
Lösung des Problems der minor agreements. Der Vf. zeigt aber
sehr überzeugend, daß die Hypothese einer weiteren einheitlichen
redaktionellen Umgestaltung des kanonischen Mk genauerer
Analyse der minor agreements nicht standhält. Dennoch gibt
der Vf. zu, daß einige dieser agreements nicht im Rahmen der
engeren Zweiquellentheorie wegerklärt werden können. So
rechnet er denn mit leicht modifizierten Abschriften des Mk
(wobei in den Exemplaren des Mt und Lk immerhin Mk 4,26-
29 gefehlt haben muß).
Im ganzen sind diese vier Studien überzeugendes und anregendes
Ergebnis methodisch vorbildlicher Arbeit. Eine glänzende
Darstellung der Problem- und Forschungslagen macht das
Buch gut lesbar.
Oldenburg Gerhard Sellin
Fowler, Robert M.: Let the Reader understand. Reader-Res-
ponse criticism and the Gospel of Mark. Minneapolis: Fort-
ress Press 1991. XII,, 279 S. gr.8° ISBN 0-8006-2491-2.
Seit rund zehn Jahren gewinnt eine neue exegetische Fragestellung
an Bedeutung: die Frage nach der Rolle des Lesers in
der Interpretation des Neuen Testaments. Der Text wird nicht
nach seiner Entstehungsgeschichte oder nach seiner literarischen
Struktur befragt, sondern primär nach dem, was der „implizierte
Autor" bei dem „implizierten Leser" bewirken will
bzw. - das ist nur die Kehrseite - nach der Erfahrung des Lesers
mit dem Lesen des Textes. In der amerikanischen Exegese hat
sich dafür die Bezeichnung "Reader-Response Criticism" eingebürgert
. Der Autor des hier vorzustellenden Buches, Associa-
te Professor of Religion am Baldwin Wallace College, Berea,
Ohio, hat bereits 1981 eine entsprechende Untersuchung der
markinischen Speisungsgeschichte vorgelegt. Jetzt möchte er
die Reader-Response-Kritik auf das ganze Markusevangelium
ausdehnen, um zu zeigen, wie umfassend diese älteste Evangelienschrift
leserorientiert geschrieben ist. Er verbindet damit im
ersten Teil (7-58) eine grundsätzliche, freilich immer schon auf
das Markusevangelium bezogene Einführung in Wesen und
Aufgabe der Reader-Response-Kritik, für die der Leser dankbar
sein wird.
Grundlegend ist - im Anschluß an die allgemeine Literaturtheorie
- die Unterscheidung von Erzähler und Rezipient der Erzählung
. Ihr entspricht die weitere Unterscheidung von Erzählung
und Diskurs. „Erzählung" (story) meint den unmittelbaren
Inhalt des Erzählten, „Diskurs" die rhetorische Art und Weise
seiner Vermittlung. Nicht auf der Ebene der Erzählung, wohl
aber auf der des Diskurses ist von vornherein der Leser präsent,
wobei zwischen dem vom Erzähler „implizierten Leser" und
dem jeweils „realen Leser" unterschieden werden muß. Im Rahmen
der Reader-Response-Kritik ist der „reale Leser" der „kritische
Leser" als Glied einer kritischen Gemeinschaft. Auch sein
Lesen ist wie alles Lesen ein dynamischer, temporaler Prozeß,
bei dem das Lesen als Ereignis mehr interessiert als sein Inhalt.
Ja, die faktische Bedeutung des Textes ist ganz wesentlich ein
Werk des Lesers, wobei der kritische Leser vorwärts und rückwärts
blickt und Lücken entdeckt, die er selber auffüllt. Antike
Literatur war insonderheit leserorientiert, umsomehr, als sie
vielfach der mündlichen Rede noch sehr nahestand. Reader-
Response-Kritik fragt deshalb primär nach der pragmatischen
und rhetorischen Funktion des Textes, nicht nach seiner semantischen
und referierenden Funktion. Das unterscheidet sie von
der modernen Bibelwissenschaft, die mehrheitlich noch immer
historisch oder theologisch orientiert ist.
Im zweiten, d.h. im Hauptteil des Buches (61-266) bemüht
sich F., wesentliche Elemente der leserorientierten „narrativen
Rhetorik" des Markusevangeliums herauszuarbeiten. Ausgangspunkt
ist die Feststellung, daß der Erzähler recht eigentlich seine
Autorität begründet, indem er Jesu Autorität begründet. Jesu
Stimme ist die Stimme des Erzählers und umgekehrt. Sein
Hauptanliegen ist „weder das Geschick Jesu noch das der Zwölf
innerhalb der Erzählung, sondern das Geschick des Lesers ausserhalb
der Erzählung" (80). Ein erstes Element der „narrativen
Rhetorik" wird greifbar in verschiedenen Arten eines expliziten
Kommentars, einmal zum Diskurs (besonders deutlich 13,14b),
zum anderen zur Erzählung in Gestalt eingeschobener Bemerkungen
zu Ursache und Grund, zum Zweck und Ergebnis oder
in Gestalt eingeschobener Relativsätze, Adverbialsätze und Partizipialsätze
. Schwächere direkte Signale an die Adresse des
Lesers sind Anakoluthe, Appositionen oder Konjunktionen wie
kai und de. Über das ganze Evangelium verstreut bringt der unpersönlich
, aber allwissend agierende Erzähler innere Einblicke
zu Personen (Wahrnehmungen, Emotionen, Motivationen, private
Rede).
Noch größere Bedeutung als die expliziten besitzen die impliziten
Kommentarbemerkungen. Sie erscheinen einerseits als
Bemerkungen von Personen, andererseits als Elemente der Organisation
oder Struktur der Erzählung. Zur ersten Gruppe gehören
z.B. die Menschensohnworte Jesu. Da sie innerhalb der
Erzählung von niemandem aufgegriffen werden, fungieren sie
effektiv nur für den Leser. Zur zweiten Gruppe gehören solche
Phänomene wie die schlichte Nebeneinanderordnung von Episoden
, durch die für den Leser eine Fülle von Fugen, Nähten
und Lücken entsteht, oder die Dualität eng verwandter Geschichten
, die zwar nicht die Jünger, wohl aber die Leser zu Insidern
macht. Ein „Meisterstück" indirekten Kommenlars ist die
Grabesgeschichte, die das Ende der Gesamterzählung bewußt
offen läßt und damit der Offenheit des Anfangs entspricht. Ausgehend
von der Kreuzigungsszene spricht F. generell von einer
„meisterhaften Rhetorik der Indirektion" (155), in der er den
Schlüssel zum Erfolg der Markuserzühlung sieht. Als einzelne
Elemente dieser Rhetorik werden in der Passionsgeschichte und
darüber hinaus Ironie, Paradoxie, Metapher, Zweideutigkeit und
Undurchsichtigkeit nachgewiesen. Diese „Rhetorik der Indirektion
" besitzt für den Leser „mäeutischcn" Charakter. Sie leistet
Hebammendienst, indem sie zur Selbstentwicklung und Selbsttransformation
des Lesesrs während des Leseprozesses beiträgt
(223). Sie impliziert eine bemerkenswerte Bereitschaft, in Ungewißheit
, Geheimnis und Zweifel zu wohnen (224). Abschließend
wird an ausgewählten Matthäustexten gezeigt, wie sehr hier
gleichsam ein „Palimpsest" des Markusevangeliums vorliegt und
wie alles spätere Lesen dieses Evangeliums sich kaum von der
„Matthäus-Brille" zu lösen vermag. Die insgesamt ambivalente
Rhetorik des Markus ist durch Matthäus domestiziert, literalisieri
und historisiert worden (255).
Das Buch vermittelt innerhalb der selbst gesetzten Grenzen
eine Fülle beachtenswerter Beobachtungen und Einsichten. Sei-