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Ausgabe:

1993

Spalte:

285-287

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Protestantische Identität heute 1993

Rezensent:

Winkler, Eberhard

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285

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 4

286

Allgemeines, Festschriften

Graf, Friedrich Wilhelm, u. Klaus Tanner [Hg.]: Protestantische
Identität heute. Gütersloh: Mohn 1992. 304 S. 8°.
Karl. DM 58,-. ISBN 3-579-00278-3.

Anläßlich des 60. Geburtstages von Trutz. Rendtorff fand
1991 in Tutzing ein Kolloquium statt, dessen Beiträge dieser
Band enthält.

Friedrich Wilhelm Graf führt eingangs in die Geschichte des
Protestantismusbegriffs ein und gibt einen Überblick über die
vier Teile des Bandes.

Nach Dietrich Kössler heißt „Protestantische Identität", daß
der Protestantismus nicht gegen seine Zeit, sondern in ihr zur
Geltung gebracht wird. „Protestantische Reflexionskultur" findet
Falk Wagner im Neuprotestantismus, dessen entscheidender
Erkenntnisgewinn gegenüber den reformatorischen Anfängen
darin besteht, die ..Alternative von göttlicher Alleinwirksamkeit
und menschlicher Passivität zu verabschieden".Mit Hieben gegen
„eine zur Sektenmentalität neigende Wort-Gottcs-Theolo-
gie" fordert Wagner, „daß die theologisch begründete Freiheit
des besonderen christlich-religiösen Bewußtseins in die allgemeine
Freiheit des soziokulturellen Selbst- und Weltumgangs
übersetzt wird".

„Was ist das spezifisch .Evangelische' als das .Protestantische
'?" fragt Traugott Koch. In Auseinandersetzung besonders
mit F. C.Baur bedenkt er die Schwierigkeit, ein protestantisches
Prinzip zu definieren. Christliche Wahrheit ist nicht aus
einem Prinzip abzuleiten, sie ist „das Ereignis des Ergriffenwr-
dens... von der Wahrheitsmacht Jesu Christi". „Und solange
auch nur eine Konfessionskirche von sich behauptet, sie allein
mache selig, ist protestantische Kirche nötig, damit für alle
deutlich ist. daß keine vorhandene Kirche selig macht".

Eilert Herms meint. „Identität" sei ein dogmatischer Begriff.
Er versteht protestantische Identität als Identität des reformatorischen
Christentums („Kirche und Kirchenverständnis als Fundament
protestantischer Identität").

„Gibt es Prinzipien des Protestantismus, die im ökumenischen
Dialog nicht zur Disposition gestellt werden dürfen?"
Wolfhart Pannenberg antwortet mit der These, daß nur das
Schriftprinzip Grundlage evangelischer Theologie ist, von ihr
aber aus dem Mittelalter übernommen wurde. Im Sinne der
Reformation sind nicht protestantische Prinzipien oder Besonderheiten
bewahrenswert, „sondern einzig und allein die christliche
Identität der Christenheit", also „was zum Glauben an
Jesus Christus gehört und Bedingung der Gemeinschaft mit ihm
ist".

„Vom Procedere einer nachprotestantischen Pluralitätstheolo-
gie" handelt Hermann Timm. Ihr Weg führt vom Monolog des
Protestes über den forensischen Dialog des Sprachgeschehens
zum metaforensischen Polylog des Geistes.

Klaus Tanner hält es nicht mehr für möglich, durch den Rekurs
auf Prinzipien Einheit zu stiften, zumal ein radikaler Rele-
vanzverlust dogmatischer Theologie zu konstatieren sei. („Von
der liberalprotestantischen Persönlichkeit zur postmodernen
Patchwork-Identität?").

Kurt Nowak stellt seine den 2. Teil eröffnenden Erwägungen
„über den Wandel des ostdeutschen Protestantismus in vierzig
Jahren DDR" unter die Überschrift „Labile Selbstgewißheit".
Er findet in den ostdeutschen Kirchen „die Überzeugung, eine
ekklesiologisch und sozialethisch fortgeschrittenere Gestalt der
Kirche zu repräsentieren, als das Kirchensystem der (alten)
Bundesrepublik", obwohl diese Kirchen an der (gebremsten)
Modernität" der DDR partizipierten. Für konjekturbedürftig hält
Nowak ferner die Gleichung Protestantismus = evangelische

Kirche.Von labiler kirchlicher Selbstgewißheit handelt auch
„ein deutsch-jüdischer Seitenblick auf die Evangelische Kirche
" von Michael Wolffsohn, der als Politologe kritisiert, daß
die evangelische Kirche „sich zu intensiv um Politik und Geschichte
, zu wenig um Heilsgeschichte, zu viel ums materiellkörperliche
Heil der Menschen, zu wenig um ihr Seelenheil
gekümmert" habe und bei manchen politischen Stellungnahmen
, etwa zum Golfkrieg, „nicht ganz unscheinheilig" geredet
habe („Die Politik als Opium für die Religion")

„Protestantische Identität in der Risikogesellschaft" bedenkt
Reiner Anselm unter einem Motto aus Christa Wolfs „Kassandra":
„Freude aus Verunsicherung ziehn - wer hat uns das denn beigebracht
!". Protestantischer Zeitgeist soll sich dagegen wenden,
daß Einz.clfragen technologischer Risiken mit der Autorität des
Glaubens behandelt und so religiöse und scheinreligiöse Sphären
vermischt werden.

Den dritten, historisch orientierten Teil beginnt Gunter Wem:
„Luthers Streit um Erasmus als Anfrage an protestantische Identität
". Wenz räumt dem erasmischen Erbe ein .eigenes Lebensrecht
' auch innerhalb der lutherischen Tradition ein, weil theologisch
gezeigt werden muß, „wie aus dem in der bedingungslosen
Zusage von Wort und Sakrament gründenden Rechtfertigungsglauben
die Werke der heiligenden Liebe hervorgehen sollen".

Hartmut Ruddies' „Überlegungen zum Recht und zur Form
des Einspruchs der Dialektischen Theologie Karl Barths gegen
die Liberale Theologie" unter der Überschrift „Protestantische
Identität zwischen Krise und Aufbau" führen zu dem Desiderat
einer „Darstellung der Theologie Barths, die dem Umstand
nachgehl, daß der Gang seiner Theologie auch Möglichkeiten
dafür bereitstellt, die positionellen Alternativen in der Theologie
, an denen er einst selber kräftig mitgewirkt hat, zu überwinden
".

Rolf Schieder, „Mentalitätsgeschichte und Predigtgeschichte
", analysiert eine Rundfunkpredigt von Wolf Meyer-Erlaeh
aus dem Jahre 1932 mit dem Ergebnis, „daß die Umdeutung der
eigenen Außenseiterpositionen in ein Elitebewußtsein derjenige
mentale Vorgang ist, der als das Konstruktionsprinzip der Predigt
Wolf Meyers angesehen werden kann".

Joachim Mehlhausen deutet die dogmatischen Auseinandersetzungen
im Kirchenkampf als „eine verschlüsselte Auseinandersetzung
über die völlig verschiedenen gesellschaftlich-politischen
Grundhaltungen der streitenden Parteien" („Kirchenkampf
als Identitätssurrogat? Die Verkirchlichung des deutschen
Protestantismus nach 1933").

Im vierten, ganz der Praktischen Theologie zugeordneten
Teil gibt zuerst Volker Drehsen Hinweise zur Genese des Themas
„Unkirchlichkeit" sowie zu den Problemen schwindenden
Gottesdienstbesuchs und des Kirchenaustritts: „Erosion - Auswanderung
- Selbstparalysierung. Vermutungen über Schwund
und Distanz protestantischer Kirchenbindung". „Eine praxisorientierte
, biographienahe Theologie der Unkirchlichkeit bleibt
der protestantischen Identitätsvergewisscrung als ekklesiologi-
sches Schibboleth aufgegeben".

Rüdiger Schloz hebt aus Befragungen von Studierenden und
Führungskräften hervor, daß man dem Gewissen hohe Bedeutung
beimißt, die Gewissensbildung aber zunehmend von der
Glaubensbindung gelöst wird. Er wendet sich gegen ein Drängen
auf Ganzheit, das unfähig macht „für die Aufgabe, der Ge-
seHSchaft ein übergreifendes religiöses Kommunikationsmedium
zu sein" („Zerfall der religiösen Kommunikation - Partiku-
larisierung des Ethos? Niederschläge und Aufgaben des Protestantismus
").

Godwin Lämmermann wagt „Teilweise ironische Annäherungen
an die schwierige Frage, ob die Kirche sich erneuern
kann": „Flexible Identität vesus Starrheit der Institution?". Die
Bemühungen um Gemeindeaufbau beurteilt er negativ, obwohl
sie mit seiner Absicht übereinstimmen, die Kirche möge wieder