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Ausgabe: | 1993 |
Spalte: | 275 |
Autor/Hrsg.: | Bayer, Oswald |
Titel/Untertitel: | - 284 Das Sein Jesu Christi im Glauben 1993 |
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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 4
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Oswald Bayer
Das Sein Jesu Christi im Glauben
I. „Einheit" in Philosophie und Theologie
Nicht zuletzt die sieben freien Künste haben Martin Luther
gebildet - und mit ihnen die Dialektik, die Philosophie, die er
freilich nicht von der Rhetorik und der Grammatik, der er den
Vorrang gab, isoliert sehen wollte. Für den magister artium
waren die Philosophie und ihre Fragestellungen kein bloßes
Beiwerk und Ornament seines Lebens und Werkes; sie gehören
vielmehr in deren Mitte.
Es fragt sich freilich, in welcher Weise die Philosophie in die
Mitte von Luthers Leben und Werk gehört. Ein Blick auf einen
so repräsentativen Text wie die Thesenreihe zur Disputatio de
homine von 1536 zeigt, daß sich Luthers Theologie nicht anders
als im engsten Bezug auf die Philosophie artikuliert - ja,
nicht etwa nur sekundär artikuliert, sondern konstituiert.
Das ist theologisch nur in Ordnung. Theologie darf und kann
um ihrer selbst willen die Philosophie nicht loslassen; die Nötigung
, ernsthaft und unbefangen auf sie einzugehen, ergibt sich
nicht aus äußeren Gründen, sondern aus dem innersten Grund
des christlichen Glaubens und seines universalen Anspruchs,
dem Theologie nachdenkt. In allen ihren Disziplinen ist sie
„systematische" Theologie, wenn sie im Gespräch mit der - im
weitesten Sinne verstandenen - Philosophie Wahrheitsansprüche
prüft und in denkender Verantwortung zu sagen wagt,
was als christlicher Glaube und christliches Handeln angesichts
der Vergangenheit und Zukunft im Bezugsfeld jeweiliger Gegenwart
zu gelten hat.
Das notwendige Gespräch ist freilich unvermeidlich ein
Streitgespräch. Indem die Theologie es führt, bildet sich nicht
nur ihr Verhältnis zur Philosophie; sie konstituiert sich darin
vielmehr überhaupt erst selbst: Theologie ist keine Verständigung
des Glaubens mit sich selbst in einem Binnenraum; sie ist
Konfliktwissenschaft. Sie konstituiert sich allein im Sich-Ein-
lassen auf Einwände und Bestreitungen. Denn im Raum des
Verstehens und Denkens läßt sich nicht überspielen, was den
gelebten Glauben anficht. Der aber liegt im Streit, wenn seine
Urkunde lautet: „Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine
anderen Götter neben mir haben!"
Auf diesen Zuspruch antwortet das Bekenntnis zu dem einen
Gott und Herrn (Dt 6; IKor 8,4-6). Der jüdische und der christliche
Glaube ist von einer Einheit, dem einen Gottesnamen, her
und auf sie aus. Darin hat er sein Sein.
Doch: Wie verhält sich diese Einheit zu jener, auf die griechische
Philosophie mit ihrer Metaphysik - mit ihrer Suche
nach dem wahren Wesen des Göttlichen, nach der natura dei
also - aus ist? Das ist keine Frage, die von außen an die Sache
herangetragen wäre. Sie stellt sich nicht zuletzt dadurch, daß
der christliche Glaube zu seiner denkenden Verantwortung sich
auf das Wort „Theologie" und damit auf eine Fragestellung
eingelassen hat, die seine Reflexion zwischen Mythologie und
Metaphysik stellt und mit beidem kritisch verbunden sein läßt'.
Zuvor schon hat sich diese Frage faktisch durch die griechische
Fassung des hebräischen Gottesnamens in der Septuaginta
gestellt. Ex 3,14, der lebendige, verbal sich mitteilende Gottesname
- als Zusage mitgehender Verläßlichkeit in freier, unge-
schuldeter Gegenwart - gerinnt im Griechischen zur Selbstprädikation
dessen, der schlechthin ist: iyw ei/xi 6 wv.
Nach griechischem Verständnis gehört zum Sein schlechthin
, zum Sein selbst, die Unvergänglichkeit, die Emotionslo-
* Am 3. April 1992 auf dem internationalen Symposion über „Luther und
Ontologie" in Helsinki vorgetragen.
sigkeit und mit ihr die Leidensunfähigkeit, die Apathie. Zum
härtesten Konflikt mit griechischer Metaphysik und Ontologie
muß es dort kommen, wo die biblischen Texte ernsthaft gehört
werden. Nach Hosea 11,7-11 geschieht das ontologisch Undenkbare
, was antike Metaphysik als Mythologie ablehnt: ein
„Umsturz", eine Veränderung in Gott selbst; Gott ist nicht der
mit sich selbst identische, der sich selbst entspräche: .....Mein
Herz hat sich in mir umgewandt, mit Macht ist meine Reue entbrannt
. (9) Ich kann meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken,
kann Efraim nicht wieder verderben: denn Gott bin ich, nicht
Mensch..."2.
Diesen Gott, den Gott der Barmherzigkeit, hat Martin Luther
ernsthaft gehört. Er hat den in Gott selbst geschehenen Umsturz
erfahren, gepredigt, bedacht und besungen - am dichtesten
wohl in dem Lied „Nun freut euch, lieben Christen
g'mein...". So erwarte ich das präziseste Rhema meines Themas
aus einer Besinnung auf dieses Lied.
II. Ontologie der Selbstrechtfertigung
Die Form des Textes ist seinem Inhalt nicht äußerlich. Was
gesagt wird, kann offenbar nur in dieser Weise angemessen
gesagt werden: als Lied, als Lob, in dem die Geschichte einer
Befreiung aus tiefster Not erzählt wird. Was „doxologisches"
Reden von Gott ist, zeigt sich hier in paradigmatischer Weise.
Zur Bestimmung der Form des 1523 entstandenen Textes als
ganzer können wir von der Überschrift eines der ersten Drucke
ausgehen: „Ein Danklied für die höchsten Wohltaten, so uns
Gott in Christo erzeigt hat"- Luther, tief im Psalter verwur/ell.
bediente sich ganz selbstverständlich der Formelemente dieser
Urgebete Israels und der Kirche: Bericht der Not, Bericht der
Rettung.
Auf den ersten Blick scheint das Lied nur das eines einzelnen
zu sein. Doch wird es in der Gemeinde vorgetragen. In der
Strophe 1 werden die Mitchristen zum Lob aufgerufen. Der
Grund und Gegenstand des Lobes wird als „an uns" (1,54) geschehen
gerühmt. Wenn nach der Aufforderung zum Lob (1,1-
4) und seiner kurzen Begründung (1,5-7), die beide im W/V-Stil
gehalten sind, die in der Eingangsstrophe summarisch vorweggenommene
Geschichte ausführlich - in 9 langen Strophen -
durchgehend in der ersten Person des Singulars erzählt wird,
dann kann es sich - unter Voraussetzung der Eingangsstrophe -
nicht um ein von der Gemeinde isoliertes Ich handeln. Wie im
Credo spricht hier das Ich eines jeden Christen - ja, in den Strophen
2 und 3, das Ich eines jeden Menschen.
Gelobt wird das Evangelium. Da dies in diesem Lied bis in
Einzelheiten parallel zu der Definition geschieht, die Luther
kurz zuvor (1522) in der „Vorrede auf das Neue Testament"
gegeben hatte, rufe ich sie hier in Erinnerung: „Evangelion ist
ein griechisches Wort und heißt auf deutsch: gute Botschaft,
gute Märe, gute neue Zeitung, gut Geschrei, davon man singet,
saget und fröhlich ist. Als David den großen Goliath überwand,
kam ein gut Geschrei und tröstliche neue Zeitung unter das
jüdische Volk, daß ihr greulicher Feind erschlagen und sie
1 Oswald Bayer, Entmythologisierung? Christliche Theologie /wischen
Metaphysik und Mythologie im Blick auf Rudolf Bullmann; in: N/.STh 34,
1992, 109-124.
2 Dazu: Jörg Jeremias, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), 1983, 143-147
(„Willensumsturz in Gott"). Vgl. ders.. Die Reue Gottes, 1975, 52- 59.
WA 35, 423; Schreibweise modernisiert.
4 Mit der bloßen Zahl wird hier und im folgenden die Zahl der jeweiligen
Strophe und Zeile angegeben. Der Text (WA 35,422-425; vgl. AWA 4,
154-159 samt 56-5X) wird in seiner Schreibweise modernisiert.