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Ausgabe:

1993

Spalte:

260-261

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Baldermann, Ingo

Titel/Untertitel:

Wer hört mein Weinen? 1993

Rezensent:

Degen, Roland

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259

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 3

260

wie geistige, näherhin philosophische und theologische Traditionen
. Wenn auch die Frage nach der Autorität der Bibel die
Leitfrage für O'Neill sein soll, so ist doch die Darstellung nicht
von dieser Problematik dominiert, sondern es wird eher ein
Gesamtbild des entsprechenden Denkers gegeben, in das dann
die Leitfrage - sehr unterschiedlich quantitativ und qualitativ -
eingetragen wird.

Wer O'Neills Buch liest, bekommt einen Generalüberblick
über die entsprechenden Personen in ihren Traditionen, ihrem
Leben und Denken und in ihrer Stellung zur Bibel. Als Propädeutik
bietet sich O'Neills Buch auch für den deutschsprachigen
Leser an. Der wissenschaftliche Diskurs - sei es theologisch
, sei es philosophisch - wird nur sehr sparsam angedeutet,
oft fehlt er gänzlich.

Es fällt auf, daß generell gesehen, O'Neills Darstellung (die
übrigens sehr schöne längere Zitate der behandelten Denker
enthält) der Theologen zumeist besser gelingt als die der Philosophen
. Insbesondere die Bibeltheologen sind gut charakterisiert
(Eichhorn, Gunkel, Bultmann). Aber auch Lessing und
Herder sind gut getroffen. Dagegen sind die Darstellungen über
Kant, Hegel, Sendling, Nietzsche und Albert Schweitzer nicht
frei von signifikanten Ungenauigkeiten, wenn auch hier das
Wesentliche zur Sprache kommt. So leidet O'Neills Interpretation
Albert Schweitzers an der Fixierung O'Neills, Schweitzer
wesentlich als Stoiker begreifen zu wollen. (Zu A. Schweitzers
Denken vgl. meinen Aufsatz: A. Schweitzers elementares ethisches
Vernunftdenken, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie
und Theologie, 39, 1992, 77-104).

Irritierend und verzeichnend ist allerdings der Aufsatz zu
Karl Barth. Zwar erkennt O'Neill: "Karl Barth is not easy to
understand". (266), aber das ist natürlich kein Freibrief für die
nachfolgende theologische, philosophische und politische Verzeichnung
Karl Barths. Es ist schon erstaunlich, wie leer und
inadäquat hier analytisch und spekulativ verfahren wird. Zwar
habe Barth viele Pastoren und Gemeinden davor bewahrt, ihre
Integrität angesichts des Nationalsozialismus zu verlieren, und
geholfen, das Leben vieler deutscher Juden zu retten, "but even
here there are reservations to be made" (267). Denn Barths
genereller Zweifel an "basicmoral und political law... helped
feed the general German bourgeois scorn for the Weimar Repu-
blic and hindered the formation of a solid demoeratie centre
party" (267), die hätte Hitler widerstehen können. Hier offenbart
sich bei O'Neill die nicht genügende Vertrautheit mit dem
Barthschen Leben und Werk. Wenn man auch O'Neill nicht
verwehrt, so Barth zu befragen, ist es doch unerläßlich, solide
und nicht quasi ideologisch zu argumentieren, und zwar konkret
angesichts der notwendigen historischen und theologischen Daten
. Verkennung Barths durch O'Neill belegt auch das Folgende
: Barths Theologie sei "a great Performance with himself as
the centre". (282) „Barths System ist reiner Humanismus, der
glaubt, daß die Rettung der Humanität in der Akzeptanz des
Irrationalen liegt". (282) Ja, Barths Werk - so O'Neills Summa-
rium - "is one of the great seif- defeating failures of our age. He
rescued the authority of the Bible at the expense of making it a
work of art, the text of a theatrical Performance." (283).

O'Neill m eint mit seinem Buch belegen zu können, daß das
"European consciousness" geschichtlich geprägt sei durch das
Verstehen der Autorität der Bibel. "The history of how the study
of the Bible fixed the authority of the Bible at the heart of
European consciousness while neutralising the God of the Bible
is a history to make us stop and think again. It is our history,
and it's deeply llawed." (309)

Jena Udo Kern

Praktische Theologie:
Katechetik, Religionspädagogik

Baldermann, Ingo: Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken
sich selbst in den Psalmen. 3. Aufl. Neukirchen-Vluyn: Neu-
kirchener Verlag 1992. 132 S., 4 Farbtaf. 8° = Wege des Lernens
, 4. ISBN 3- 7887-1253-8.

Der Siegencr Religionspädagoge Ingo Baldermann bleibt auch
mit dieser Arbeit, die seit 1986 bereits in 3. Aufl. vorliegt, beharrlich
bei seinem Thema: Biblische Sprache erschließt sich
aufgrund der ihr eigenen Didaktik. Weil sich die Bibel selbst
als ein „Buch des Lernens" versteht, führt biblischer Unterricht
durch gemeinsames Entdecken und Erkunden zu „jener Geburtssprache
des Glaubens, die schöpferisch ist, die aufbauen
kann, öffnen, erinnern, hingerissen loben, unbeirrt träumen,
ausschwingend jubeln" (H. Ruppel im Nachwort, 126). Keine
Reise in ein historisch und geographisch fernes Bibelland ist
angesagt. Indem B. biblische Sprache - in diesem Falle die
Psalmen - mit den Augen der Kinder zu lesen versucht, kommen
vielmehr im behutsamen Bedenken biblischer Wendungen
und Metaphern die Erfahrungen, Hoffnungen und Träume heutiger
Kinder zur Sprache. Durch ein derartiges entdeckendes
Aufschließen wird unser Reden von Gott und den Menschen
elementar und so zugleich zum Ausdruck von bedrängender
Gegenwart. „Was wir von Gott sagen, muß sich an unseren Erfahrungen
und Einsichten verständlich machen und mit ihnen
vermitteln lassen. Das heißt nicht, daß es durch unsere Erfahrungen
gedeckt und erwiesen sein müßte: die großen biblischen
Verheißungen des Friedens gehen in unseren Erfahrungen nicht
auf; und doch werden sie gerade erst auf dem Hintergrund der
wachsenden Bedrohung unserer Welt beredt" (67).

Ohne daß es dem Leser immer bewußt ist, kämpft B. gleichzeitig
an mehreren Fronten. Einerseits wendet er sich im Interesse
unmittelbarer und selbständiger Bibelzugänge gegen jene
entmündigende Fachexegese, die sich „wie ein bleiernes Tuch"
(9) über die Texte breiten kann. Andererseits distanziert er sich
von jener Problcmorientiertheit, bei der - versehen mit einem
biblischen Motto - lediglich über Sachverhalte folgenlos geredet
wird und es (angeblich) kaum zu unmittelbarer Betroffenheit
durch biblisches Sprechen kommt. Auch sind ihm das
Schema „von der Exegese zur Katechese" und jene autoritäre
Kerygma-Setzung gestriger Katechetik suspekt, bei der oft biblische
Skopoi-Sälze vorausgesetzt und deduziert werden, die
eigenständige Entdeckungen verhindern und kaum dazu führen,
„der Bibel auf die Spur" zu kommen (Lernen).

Stärker, als aufgrund derartiger Abgrenzungen zu vermuten
ist, bleibt B. jedoch der historisch-kritischen Exegese verbunden
, indem er etwa die Bedeutung der Formgeschichte für die
Erschließung kleiner sprachlicher Einheiten herausstellt und für
sein Psalmenverständnis die Einsicht (H. Geses) fundamental
ist, daß im Gottes-Lob des Tempel-Dankopfermahles noch einmal
die „überwundene Not in der Gestalt der Klage vergegenwärtigt
wird" (17). Indem B. zudem Angst in den Psalmen zutreffend
nicht als allgemeine Seinsbeschreibung des Menschen
gelten läßt, sondern er derartige Aussagen mit all ihrer Meta-
phorik als unmittelbare Bedrohung versteht, zielt er damit
durchaus in die Richtung einer situativ-erfahrungsorientierten
Didaktik.

In bewundernswerter Weise geht B. in diesem Sinne ausgewählten
Wendungen der Psalmen nach. Die Sprache der Klage
wird bei ihm zum Protest gegen eine Theologie des sich Fügens
und zum Widerstand gegen konkrete Bedrohung. Angstsätze
geben dem Vertrauen auf Gott ihre Kontur und zeigen, wodurch
das Lob zum Lob wird. So mündet dieses Abhorchen