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Ausgabe:

1993

Spalte:

3

Autor/Hrsg.:

Ritter, Werner H.

Titel/Untertitel:

- 18 Religionsunterricht hüben und drüben 1993

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3

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 1

4

Werner H. Ritter
Religionsunterricht hüben und drüben (Teil 1)

A. Verständnisprobleme im Anschluß an den "Anschluß"

I. Die unterschiedlichen Ausgangspositionen

1. Bislang „Christenlehre" (DDR)

Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gab es bislang als einzige
Form religiöser bzw. kirchlicher Unterweisung im Glauben
nur die sog.Christenlehre) Eingerichtet nach 1945 anstelle des
früheren schulischen Religionsunterrichts - unter Verweis auf
die Trennung von Staat und Kirche - hatte und hat sie ihren Ort
in der Gemeinde. Als „Prozeß des ,Glauben-Lernens'" verstanden
, sind Gemeinde, Gemeinderaum, Kirche und „gemeinsames
Leben" für sie unverzichtbar (Eckart Schwerin), und als kirchliche
Veranstaltung war und ist sie inhaltlich wie rechtlich, organisatorisch
wie räumlich völlig unabhängig von Schule und Unterricht
. Ihre Teilnehmerzahlen - nach jüngsten Einschätzungen
(1990) gehört nur ein knappes Drittel der Bevölkerung in den
neuen Bundesländern einer Kirche an2 - sind im Laufe der Jahre
eminent geschrumpft; so wurde sie im letzten Jahrzehnt schätzungsweise
auf dem Lande von etwa 20% und in den Städten
von etwa 2% der Kinder bzw. Jugendlichen besucht.

Der Beitritt der DDR am 3. Oktober 1990 zur Bundesrepublik
Deutschland brachte nun zahlreiche kultus-, bildungs- und
schulpolitische Probleme mit sich, wobei eine der drängendsten
Fragen, die Kirchen und Öffentlichkeit in den vergangenen beiden
Jahren diskutierten und noch diskutieren, war bzw. ist, wie
in den Schulen auf ehemaligem DDR-Gebiet künftig mit dem
Fach Religionsunterricht bzw. mit Artikel 7 des Grundgesetzes
verfahren werden solle. Stand hier tatsächlich, wie immer wieder
der Eindruck zu erwecken versucht wurde, nur ein einziges
Problemlösungsmodell zur Verfügung, welches mittlerweile
auch faktisch in vier der fünf neuen Bundesländer realpolitisch
durchgesetzt wurde, wonach nämlich in Sachen Religionsunterricht
die entsprechenden grundgesetzlichen Regelungen der
(alten) Bundesrepublik einfach mit zu übernehmen und zur
Anwendung zu bringen waren? Bevor darüber im II. Abschnitt
zu reden ist, sei der Blick gerichtet auf:

2. Religionsunterricht nach Artikel 7,3 Grundgesetz (BRD)3
Wie sieht nun die Konstruktion des konfessionellen Religionsunterrichts
in der bisherigen Bundesrepublik aus? Die Bundesrepublik
Deutschland hat in ihrem Grundgesetz aus dem
Jahre 1949 die Erteilung von Religionsunterricht an öffentlichen
Schulen in Artikel 7 GG (fußend auf Art. 4 GG) folgendermaßen
geregelt:

„( 1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des
Staates.

(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die
Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.

(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen
mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach
. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der
Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen
der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen
seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen
."

2.1 Seinerzeit hat sich, von der unausgesprochenen Voraussetzung
ausgehend, daß (fast) alle Schülerinnen und Schüler
bzw. deren Eltern einer der beiden großen Kirchen angehören
(und Christen sind), aus der Formulierung „in Übereinstimmung
mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften" der
nach Konfessionen getrennt organisierte und erteilte Religionsunterricht
(„konfe^uaucller Religionsunterricht") entwickelt.

den es in den meisten alten Bundesländern bis heute gibt. Dem
steht - in den alten Bundesländern - heute kontrafaktisch und
kontraproduktiv entgegen, daß wir seit einiger Zeil infolge neuzeitlicher
religiöser Individualisierung, Privatisierung und Plu-
ralisierung keine flächendeckende und in der Tendenz „geschlossene
" christliche Gesellschaft mehr haben wie im Mittelalter
. Zudem bringt es die im letzten Jahrzehnt bzw. in den letzten
Jahren verstärkt auftretende Mentalitätsneigung zu „Auswahlreligiosität
"4 und „Patch workidentität"-^ mit sieh, daß konfessionelle
Profile längst nicht mehr so ausgeprägt sind wie
noch vor 30, 40 Jahren, was freilich derzeit nicht das definitive
Ende konfessioneller Religionsgestalten bedeutet. Was sich dagegen
in der bundesrepublikanischen Mentalität v.a. der 80er
Jahre „gelockert" oder verändert hat, ist zweifelsohne die Bereitschaft
, sich an konkret vorkommende Religions- und Konfessionsgestalten
mit einem entsprechenden Verhaltens-Set zu
binden. Als auffällig muß darüber hinaus eine Zunahme, ein
Wachstum der religiösen und neureligiöscn Szene („freiflottierende
Religiosität") erwähnt werden. Dazu kommt ein nicht zu
übersehender Synkretismus als typische Folge eines Mangels
an gemeinverbindlicher „Orthodoxie". Auch wenn P. L. Berger6
meint, Religion werde in der modernen Gesellschaft nur
noch in der Form md'ividueUerWahlenischcidung angeeignet
(eine us-amerikanischc Beobachtung und Gegebenheit), für die
religiöse Lage in der Bundesrepublik dürfte dies so nicht zutreffen
: Hier gibt es, wie ich meine, nach wie vor traditionell
und rituell bestimmte und besetzte christlich-religiöse Mentalitäten
und Mentalitäts-Lagen - jenseits von Wahlentscheidung!
- in einem ausgesprochen hohen Maße, womit sicher noch
nichts über den Grad bzw. das inhaltliche Ausmaß solchen
Christseins gesagt ist. Immerhin zeigt die westdeutsche Konfessionsstatistik
dieser Jahre, daß über 85% der bundesrepublikanischen
Bevölkerung einer der großen christlichen Kirchen
bzw. Konfessionsfamilien angehören. Diese auffällig hohe Zahl
scheint mir auch nicht durch die Rede von rein nomineller Kir-
chenmitgliedschafl falsifiziert werden zu können, da wir aus

»Teil 2 folgt in Heft 2/1993.

1 Vgl. dazu jetzt H. Aldebert, Christenlehre in der DDR, Rissen 1990:
D.Reiher [Hg.|, Kirchlicher Unterricht in der DDR 1949-1990, Göttingen
1991.

* Über 60% der Bevölkerung gehören keiner Kirche an. Etwa 30% sind
evangelisch, 5 % katholisch. Vgl. im einzelnen bei H. Obst, Aul dem Weg
in den weltanschaulichen Pluralismus. Zur geistig-religiösen Lage in den
neuen Bundesländern, in: Materialdienst der EZW 7/1991. 193ff.

■ Vgl. dazu die guten Überblicke bei H. Schmidt. Religionsdidaktik, Bd.
I, Stuttgart u. a. 1982. I3ff; G. Adam/R. Lachmann, Begründung des schulischen
Religionsunterrichts, in: Diess. [Hg.|. Religionspädagogisches Kompendium
, Göttingen 1990 66ff., v.a., 71 ff. sowie neuerdings G. Lämmermann
, Grundriß der Religionsdidaktik. Stuttgart u. a. 1991, 42ff.

4 Vgl. etwa P. M. Zulehner. Auswahlchristen, in: Volkskirche - Gemeindekirche
- Parakirche (Theologische Berichte, 10), Zürich u. a. 1981, 109IT.
Gemeint ist damit: Es wird nicht mehr das ganze System einer Religion
oder Konfession rezipiert, sondern das religiöse Individuum oder Subjekt
wählt nur bestimmte „gefällige" Anteile daraus aus (konsumptives Verhalten
).

s Vgl.dazu H.Keupp.Riskante Chancen. Wie lebt man in der Postmoder
ne?, in: SZ am Wochenende vom 2I./22.7.1990, Nr. 166, S. L - Zu verstehen
ist darunter: Identität vollzieht sich nicht mehr eindeutig und inhaltlich
profiliert, sondern eher im Sinne von "erlaubt ist, was gefällt" oder einer
Art „Collagenmentalität".

6 P. L. Berger, Der Zwang zu Häresie, Frankfurt/M. 1980. Anders U.
Boos-Nünning, Dimensionen der Religiosität. München-Mainz 1972, 15011.

XI IM J^o