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Ausgabe:

1993

Spalte:

246

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kirchner, Hubert

Titel/Untertitel:

Das Papsttum und der deutsche Katholizismus 1993

Rezensent:

Grote, Heiner

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 3

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von Stätten, da man ihn bekämpft und leugnet, ist gewiß nicht in
Ubereinstimmung mit seinem Liebesgebot" (zit. nach H. 293).

H. zeichnet die verschiedenen, wenn auch in ihrer Ausstrahlung
eingegrenzten Versuche nach, sich dem theologischen Problemkreis
„Kirche und Judentum" zu nähern. Ein Durchbruch
will in den ersten Jahren nicht gelingen. So wird selten die Ursache
für das Versagen der Kirche in der eigenen Theologie gesehen
. Auch bleibt das Anliegen, neue Möglichkeiten für die
Judenmission zu ergründen, lange bestimmend. Ebenso wird die
Chance vertan, mit der Katholischen Kirche gemeinsam den
Versuch zu unternehmen, das Verhältnis zum Judentum neu zu
gestalten.

Den Höhepunkt der theologischen kirchenwirksamen Bemühungen
sieht H. dann in der EKD-Synode 1950. Dazu soll unten
noch einiges gesagt werden.

Methodisch stellt sich für die vorgelegte Arbeit das Problem
von schriftlicher und mündlicher Überlieferung. Wodurch kann
der Inhalt einer Tagung sachgerecht nachgezeichnet werden? Natürlich
vor allem durch die schriftlichen Hinterlassenschaften.
Aber ist das alles? Jeder Tagungsteilnehmer weiß, daß neben den
Referaten auch die Gespräche über die Referate sowie Gruppen-
und Einzelgespräche Denkanstöße vermitteln, die bei den Tagungsteilnehmern
weiterwirken. Insofern ist es nicht unbedingt
schlüssig, wenn nur die schriftlich vorliegenden Referate ausgewertet
und an ihnen der Ertrag der Tagung festgemacht wird.
Dem Historiker wird bei weiter zurückliegenden Ereignissen oft
nicht mehr Möglichkeiten bleiben - und es ist ja oft schon viel,
wenn er überhaupt schriftliche Vorlagen auswerten kann -, aber
es bleibt doch eine Lücke. H. hat einiges getan, diese Lücke
durch eine Korrespondenz allerdings mit den Hauptakteuren zu
schließen. Er hat die Antworten jedoch zumindest an einer Stelle
Dich) genügend in die Auswertung einfließen lassen.

So hält er zur ersten Studientagung in Darmstadt vom 11.-16.
Oktober 1948 über das Thema „Kirche und Judentum" kritisch
fest, „daß die Schuldfrage bei diesem Treffen keine Rolle gespielt
hat" (223). Gleichzeitig gibt er jedoch in der Anm. 73
weiter: „Wie mir Rengstorff am 14. 8. 1987 mündlich mitteilte,
fand am Rande der Tagung zwischen den Teilnehmern ein reger
Austausch über diese Frage statt. Besonders hervorzuheben sei
ein sehr eindringliches, persönliches Gespräch zwischen Baeck
und Niemöller über die Schuldfrage." Gehören diese Gespräche
nicht mit zum Tagungsertrag und relativieren sie nicht die
grundsätzliche kritische Feststellung erheblich?

Eine zweite methodische Frage ist die nach den Beurteil ungs-
kriterien. Der Vf. läßt klar erkennen, daß er bei dem Verhältnis
Kirche und Judentum jeglichen Missionsgedanken ausgeklammert
wissen will, ein Schuldbekenntnis ohne „wenn und aber"
für richtig hält. Es liegt nahe, diese Beurteilungskriterien auch
an die Bemühungen nach 1945 anzulegen. Dies tut der Vf. auch
häufig.

Allerdings ist es wohltuend, wenn er z.B. die Aussage der
EKD-Synode in Berlin-Weißensee (23.-27.4.1950) „Wir sprechen
es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem
Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem
Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen
worden ist" folgendermaßen bewertet: „In jener Zeit
waren die im Abschnitt vier benutzten Worte wohl ein Maximum
dessen, was öffentlich gesagt werden konnte." (359) Und
er fährt fort: „Eine Erklärung dieser Art zielt auf die Zustimmung
möglichst vieler Menschen. Sie muß also so gesprochen
werden, daß nicht von vornherein durch bestimmte ,Reizworte'
eine spontane Ablehnung hervorgerufen wurde. Diese Gefahr
hätte sicher bestanden, wenn analog zur .Stuttgarter Erklärung'
ein öffentliches Schuldbekenntnis für alle Deutschen abgelegt
worden wäre. Bedenken in dieser Richtung hatten einige Synodale
empfunden und während der Aussprache vorgebracht.
Dadurch, daß in der Endfassung eine moderatere, wenn auch

inhaltlich schwächere Redeweise gewählt wurde, konnte dieses
Wort einstimmig angenommen werden." (359).

H. ist für seine Bemühungen um das Aufhellen der unmittelbaren
Nachkriegszeit zu danken.

Berlin Ulrich Schroter

Kirchner, Hubert: Das Papsttum und der deutsche Katholizismus
1870-1958. Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1992. 140
S. gr.8° = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, 111,9.
Pp. DM 21,50. ISBN 3-374-01406-2.

In einer Zeit und in Verhältnissen, wo so vieles plötzlich vor
dem „Aus" steht, das mit Liebe und Leistung auf den Weg
gebracht worden war, ist es ein hoffnungsvolles Zeichen, daß
die Reihe „Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen" unverändert
fortgeführt wird - fortgeführt werden kann. Auch der jüngste
Band hält den schon Ende der 70er Jahre formulierten Standard
ein: Wissenschaftlichkeit an vorderster Linie, Verständlichkeit
für jeden wirklich Interessierten und Gerafftheit der
Darstellung. Wer sich morgens hinsetzt und konzentriert liest,
ist abends zu einem gegebenen Thema auf der Höhe der derzeitigen
Forschung und Kenntnis.

Die genannten Vorgaben lassen sich nur durch klare Begrenzungen
und mutige Entscheidungen einhalten. Die Begrenzung
auf die Jahre 1870 bis 1958 ist, obwohl ursprünglich so nicht
vorgesehen, evident und bedarf keiner weiteren Rechtfertigung.
(Es soll noch je einen Band für die Zeit davor und für die Zeit
danach geben).

Die zusätzliche Einschränkung auf den „Weg des Papsttums"
einerseits und die „Entwicklung vor allem des deutschen Katholizismus
" andererseits (6) überzeugt in der Darstellung selber.
Bekanntlich pflegen alte Römer deutsche Besucher damit zu
foppen, daß - wie sie sagen - der Papst morgens aufstehe und als
erstes vor einer Deutschland-Karte darüber nachsinne, was er
heute seinen lieben Deutschen verkünden könne. Der in dieser
Neckerei steckende Vorwurf ist bei dem Kirchner-Band wahrlich
unangebracht. Der Vf. denkt an Leser in Mitteleuropa und
deren Auskunftsbedürfnisse. Es ist aber auch sachlich sinnsoll.
den Leser einmal durch das römische und einmal durch das
deutsche Objektiv schauen zu lassen. Die Entwicklung in der
römisch-katholischen Kirche folgt ja immer einem eigentümlichen
Pendelschritt zwischen Rom und den Ortskirchen. Der Vf.
macht das so überzeugend deutlich, daß sowohl Leser einer anderen
als der deutschen Muttersprache als auch Leser nicht-reformatorischer
Konfession den Band mit großem Gewinn zur
Hand nehmen werden.

Es wäre bloße Beckmesserei, für das eine oder andere der ohnehin
sehr knappen Kapitel ein Mehr oder Weniger zu fordern.
Es genügt zu sagen, daß der Kulturkampf genausogut verständlich
wird wie das Mitmachen und Widerstehen im Dritten
Reich, das höchst betrübliche Hinterherhinken der Kirche im
Ersten wie im Zweiten Weltkrieg, das alles in allem gar nicht so
ewig gestrige Gespür für die soziale Frage, die gleichwohl vorherrschende
Festungsmentalität in den Fragen von Kirche und
Theologie und vieles andere dazu.

Ist Gerafftheit die Vorgabe, so werden - da längere Argumentation
nicht erfolgen kann - klare Wertungen zur Pflicht. Dem
Autor ist es durchweg gelungen, den Leser maßvoll und angemessen
zugleich die diesbezüglichen Hilfen zu bieten.

Bensheim Heiner Grote