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Ausgabe:

1993

Spalte:

243-246

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hermle, Siegfried

Titel/Untertitel:

Evangelische Kirche und Judentum - Stationen nach 1945 1993

Rezensent:

Schröter, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 3

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und rheinisch-westfälischen Pastors Arnold Haumann will laut
Vorwort des Vf.s ein „beachtliches Stück Zeitgeschichte dastel-
len und verständlich machen" (7). Sieht man genauer hin, handelt
es sich um ein corpus mixtum aus a) biographischen Erinnerungen
an die Kindheits- und Jugendjahre (vor allem Militärzeit
, Gefangenschaft durch die US-Army, Theologiestudium
in Bethel, Heidelberg und St. Louis/USA); b) aus Schilderungen
des Aufbaus und des Scheiterns der „Gesamtdeutschen
Volkspartei" (GVP), deren Bundessekretär der Vf. zeitweise
war; c) aus Erinnerungsstreifzügen von den Fünfziger Jahren
bis an die Schwelle der Gegenwart unter verschiedenen Aspekten
- bis hin zu Reflexionen über die Steuergesetzgebung und
über § 218 (229f.).

Für die politische Zeitgeschichts-, insbesondere für die Parteiengeschichtsschreibung
sind jene Passagen und Dokumente
u.U. nützlich, die sich mit den Anfängen der GVP und dem Anteil
des Vf.s an ihrer Formierung beschäftigen. Hinzu kommen
Schilderungen der westdeutschen Jugendbewegung aus dieser
Zeit gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland
.

Das politische Credo des Vf.s - durchgehalten durch alle Regierungswechsel
und politischen Klimaumbrüche in der Altbundesrepublik
- lautet: Ermunterung zur Zivilcourage, Antimilitarismus
, Kampf gegen Unterdrückung und Entrechtung aus
den Impulsen der christlichen Botschaft. Den Marxismus von
vornherein für „falsch oder unsinnig" zu halten, lehnt der Vf.
nach wie vor ab und plädiert für „in jeder Hinsicht qualifizierte
Untersuchungen" (224). Schade nur, daß die Nachtseite des
Marxismus, die düsteren Schlagschatten des Terrors im Wellbild
des Vf.s überhaupt nicht vorzukommen scheinen. Während
diese Zeilen niedergeschrieben werden, läuft im Rahmen des
„Festivals von Perpignan" unter der Überschrift „Portraits de la
terreur" eine Ausstellung mit Tausenden von Paßfotos: Opfer
des KGB aus den Dreißiger Jahren; die meisten noch nicht
identifiziert (Bericht in: Le Monde vom 16. 9. 1992).

Nach wissenschaftlichen Kriterien wird man die sehr subjektive
Lebens- und Epochenbilanz des Vf.s weder messen können
noch wollen. Daß die von einem Vorwort des SPD-Politikers
Peter Heinemann (Sohn Gustav Heinemanns) begleitete Publikation
erstaunlich viele Sachfehler enthält, bleibt gleichwohl
ärgerlich. Günther Dehn wird vom Vf. in eine theologische
Professur in Leipzig plaziert, „Josef Göbbels" (sie!) wird als
„ehemaliger römisch-katholischer Theologiestudent" bezeichnet
(vgl. die Seiten 43 und 28). Und so weiter. Eine Zusammenstellung
aller Irrtümer, die dem Vf. unterlaufen sind, könnte
leicht länger werden als der Text dieser Besprechung.

Leipzig Kurt Nowak

Hermle, Siegfried: Evangelische Kirche und Judentum.-
Stationen nach 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1990. 422 S. gr.8° = Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte.
Reihe B: Darstellungen, 16. geb. DM 98,-. ISBN 3-525-
55716-7.

Die aus einer Heidelberger Dissertation von 1988 hervorgegangene
Arbeit schließt eine Lücke, die im Titel nicht sofort
ersichtlich wird. Kein Kompendium erwartet den Leser. Vielmehr
wird die Zeit von 1945 bis 1950, vereinzelt auch bis 1952,
ja 1958 beschrieben. Der geographische Raum ist weitestgehend
Westdeutschland, der östliche Bereich ist nur durch Sachsen
und Berlin-Brandenburg vertreten. Sicher erschließen die
neuen politischen Verhältnisse auch hier neues Archivmaterial.

Nach der Einleitung (11-15) beschreibt Kap. 1: (17-41) Die
Lage der Rasseverfolgten im „Dritten Reich", wobei die Maßnahmen
des nationalsozialistischen Staates und die Haltung der

evangelischen Kirche zur Rassenpolitik des nationalsozialistischen
Staates dargestellt werden.

Kap.2 (42-63) enthält: Die politische Entwicklung, die Ernährungslage
und die Hilfe der Israelitischen Kultusgemeinden
für ihre Glieder nach 1945.

Da in diesen Hilfsmaßnahmen Judenchristen nicht erfaßt waren
, stellt Kap. 3 (64-194) dar: Die diakonische Hilfe für ehemals
rasseverfolgte Christen. Hier wird u.a. ein Überblick über
die Aktivitäten der einzelnen Landeskirchen gegeben.

Es folgen zwei Kapitel theologischer Natur. Kap. 4: (195-
262) Ansätze einer Aufarbeitung des christlich-jüdischen Verhältnisses
sowie Kap. 5: (263-365) Die „Judenfrage" in kirchlichen
Erklärungen nach 1945.

Kap. 6 (366-372) faßt das Ergebnis zusammen und spannt S.
372 in einem knappen Ausblick den Bogen von der „Erklärung
der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland" zur
Schuld an Israel, 1950 zum rheinischen „Synodalbeschluß zur
Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" 1980.

Quellen und Literaturverzeichnis (373-389), Abkürzungen
(390-392), Personenregister/Biographische Angaben (393-416)
und Institutionen-, Orts- und Sachregister (417-422) schließen
die Arbeit ab.

Dem Vf. gelingt es, besonders das Schicksal der Judenchristen
ins Blickfeld zu rücken. Während die Jüdischen Kultgemeinden
mit ausländischer Hilfe ihre Mitglieder seelisch und leiblich versorgen
konnten, blieben die Judenchristen weitgehend unbeachtet
. Die Jüdischen Kultgemeinden sahen es nicht als ihre Aufgabe
an, sich auch um diese zu kümmern; das Hilfswerk der EKD
weigerte sich, ihnen einen besonderen Status in dem Sinne einzuräumen
, daß sie jetzt bevorzugt zu bedenken wären. Es galt
den Grundsatz durchzuhalten, „Unterstützungen an Hilfsbedürftige
... ohne Rücksicht auf die religiöse, politische oder rassische
Einstellung oder Zugehörigkeit der Hilfsbedürftigen" (so Eugen
Gerstenmaier, der Leiter des Zentralbüros des Hilfswerks, nach
S. 366) zu gewähren. So waren es Einzelpersönlichkeiten, die
durch ihr Engagement in ihrem Wirkungskreis und nur allmählich
darüber hinaus Akzente setzen konnten: Hermann Maas in
der Badischen, Fritz Majer-Leonhard in der Württembergischen
und Heinrich Grüber in der Berlin-Bandenburgischen (Landes-)
Kirche. Daneben wird der Anteil von Karl Heinrich Rengstorff
besonders als Vorsitzender des „Deutschen evangelischen Ausschusses
für Dienst an Israel" (1948-1982) gewürdigt. Vor allem
aber wird der Sekretär des Flüchtlingskomitees beim ökumenischen
Rat der Kirchen in London und Genf (1939-1947) Adolf
Freudenberg hervorgehoben.

Versuche der "First Hebrew Christian Synagogue", mit ihren
Spenden zugleich die Bildung einer eigenständigen judenchrist-
lichen Gemeinde zu verbinden, wurden abgewiesen.

Der schwierige theologische Erkenntnisweg wird sorgfältig
nachgezeichnet. H. legt erstmals ein Schreiben von Landesbischof
Wurm an die „Israelitische Religionsgemeinschaft" in
Stuttgart vom Juni 1945 im vollen Wortlaut vor. Auch wenn
aus dem Schreiben „Anteilnahme, Unsicherheit und Hilflosigkeit
" spräche, auch „Selbstrechtfertigung des eigenen Verhaltens
", so bleibe doch bemerkenswert, daß hier „erstmals nach
dem Ende der Nazidiktatur von offizieller kirchlicher Seite in
Deutschland einer jüdischen Institution gegenüber ein Mittragen
und Anteilnehmen an .Leiden und Tränen' ausgesprochen"
wurde (284f.).

Erstmals macht H. auch den Aufruf der Bremischen Evangelischen
Kirche zum siebenten Jahrestag der „Reichskristallnacht
" zugänglich. Den Gemeinden wird darin u.a. empfohlen,
„eine Kollekte für den Wiederaufbau der zerstörten Synagoge
zu veranstalten". Es ist beachtenswert, daß durch das Mitglied
des Bruderrates der Bekennenden Kirche, Pfarrer Friedrich
Denkhaus, eine ausführliche theologische Intervention vorgelegt
wurde, denn wer „Christus verunehrt durch Aufrichtung