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Ausgabe:

1993

Spalte:

232-233

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Strobel, August

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Hebräer 1993

Rezensent:

Binder, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 3

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philus hat die Funktion, den Leser aufzufordern, ständig auf der
Suche nach dem gehörten Worte zu sein. Auf ähnliche Weise
wird der Prolog zum ersten Johannesbrief als Anlaß aufgefaßt,
das ..Ihr" zu verstehen, das der Brief als gläubige Rezeption der
gehörten Botschaft postuliert. Die beiden Abschlüsse im Johannesevangelium
(Joh 20,30f. und 21,24f.) werden untersucht als
eine Polarität von Zeichen und Ereignissen, die durch die
Schrift dem Glauben vermittelt werden, wo jedoch das Zeugnis
und die Wahrhaftigkeit des Schreibens zu einer „Unmöglichkeit
" führen. Das Offenbarungsbuch schließlich weist auf ungleiche
Prozesse im gläubigen Leser und im schreibenden Seher
hin.

In allen diesen Analysen wird das enunziative Primat gegenüber
der einfachen Vermittlung der Botschaft unterstrichen.
Programmatisch steht in der Einleitung, S. 23: >I1 s'agit donc
que cette >ecriture adressee< soit recue comme teile, qu'elle
soit consideree du point de vue de ce qu'elle enortce, de ce
qu'elle >met en discours<, et non seulement du point de vue du
>message< qu'elle communique, du >savoir< qu'elle transmet
ou de >l'histoire< qu'elle represente. Nos observations nous
inviteront ainsi ä preciser une problematique de l'inonciation
qui pcrmette d'une part de bien articuler >ecriture< et >paro-
le<, et d'autre part d'engager une procedura de la lecture de
l'ecriture des textes<. Ein abschließendes Kapitel faßt verschiedene
Perspektiven über Schrift, Kommunikation und Wort
Gottes zusammen. Ein nützlicher Anhang situiert den semioti-
schen Diskurs im Verhältnis zu Kommunikationstheorie, Pragmatik
und enunziative Linguistik. Hier wird u.a. Paul Ricceurs
hermeneutisches Projekt kritisiert, das die referenzielle Funktion
des Diskurses privilegiert (105).

Der zweite Teil ist eine konsequente semiotische „Lektüre"
von Lk 1-2. In den Fußnoten werden exegetische Einsichten
verarbeitet (m.E. allzu wenig), aber der Haupttext ist von einer
anderen Sicht aus geschrieben als gewöhnliche exegetische
Kommentare. Konsequent werden referenzielle Aspekte ausgeschaltet
. Der Vf. nuanciert auf originelle Weise den Parallelismus
, den man gewöhnlich zwischen dem Täufer und Jesus
sieht, welches oft zu Hypothesen über Tradition und Redaktion,
ober über verschiedene theologische Temporalitäten führt. Er
will nicht untersuchen, warum Lukas das Kommen des Messias
durch das des Vorläufers einführt, sondern wie die Rolle des
Johannes und die des Messias durch den lukanischen Diskurs
interpretiert wird. Mit anderen Worten: er will zeigen, wie Johannes
notwendig ist für die Offenbarung Jesu, wie Jesus notwendig
ist für die Verwirklichung der Mission des Johannes,
und wie schließlich diese doppelte Notwendigkeit eine Christo-
logie enthält (139).

Im dritten Teil, dem originellsten, versucht der Vf., die theologischen
Schlußfolgerungen der beiden ersten Teile durchzuführen
. Die Berichte über die Kindheit Jesu werden unabhängig
von Jesu Tod und Auferstehung christologisch ausgewertet.
Die Sohnschaft Jesu und die Menschwerdung des Wortes werden
zusammengesehen. Mit Hilfe anthropologischer Modelle,
die Panier besonders bei Jacques Lacan und Denis Vasse findet,
versucht er die Verbindung von Geburt und Namensgebung zu
erörtern. Für Lukas ist die Sohnschaft Gottes nach P. nicht eine
mirakulöse Schwangerschaft oder Geburt, sondern eine Benennung
des Kindes Maria als Sohn Gottes. Gott erscheint hier als
der „Andere" des menschlichen Suchens und Begehrens.

P. schreibt verführerisch. Es ist ein Genuß, sich von seiner
Prosa leiten zu lassen, trotz der semiotischen Fachsprache.
Aber der Leser kann sich auch gegen allzu prunkvolle Aussagen
über das Wort, die Schrift und die Kommunikation zwischen
Text und Empfänger wehren. Die Bedeutung, die P. dem
Leser als Subjekt aller theologischen Bearbeitung von heiliger
Schrift zuschreibt, kann zu einem Verlust von ontologischem
Bewußtsein führen. Die Abstandnahme von der referenziellen

Funktion der Sprache schließt manche hermeneutische Betrachtungen
aus. Der Leser soll sich in einer symbolischen Welt zurechtfinden
, in der das Begehren des „Anderen" die klare Referenz
der Wirklichkeit Gottes ersetzt. Der Übergang von Jesus
als Gottes Sohn zu allen Menschen als Gottes Söhnen (und
Töchtern) wird allzu fließend.

Die vorliegende Arbeit ist jedoch ein bewußter Neuansatz.
Eine deutsche Übersetzung - wahrscheinlich ein schwieriges
Unternehmen - wäre m.E. wünschenswert, um die theologische
Debatte nach Bultmann in Deutschland zu bereichern.

Uppsala Ren6 Kieffer

Strobel, August: Der Brief an die Hebräer, übers, u. erkl.
Göttingen-Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1991. IV, 202
S. gr.80 = Das Neue Testament Deutsch, Teilbd. 9/2. 13.
Aufl. Kart. DM 29,80. ISBN 3-525-51374-7.

Die Rätsel, die der Hebr aufgibt, sind schwer zu lösen, bei
einigen räumt Str. ein, daß ihre Lösung in der Schwebe bleiben
muß. Damit aber gibt er dem Leser seines Kommentars die
Möglichkeit, sich durch kundige Einführung in die fremdartige
Gedankenwelt dieses biblischen Buches anregen zu lassen. Andererseits
stellt er es ihm frei, die in der gut durchdachten, zuweilen
recht anspruchsvollen Auslegung (etwa 170) enthaltenen
Vorschläge anzunehmen oder andere Lösungen zu versuchen
. Zustimmen wird man der These, daß der Vf. des Hebr
seine ,Rede' oder ,predigtartige Abhandlung' nicht ohne Anknüpfung
an einen biblischen Text, d.i. vornehmlich der mes-
sianische Psalm 110, entwirft, um aus diesem den Hauptgedanken
seiner Christologie, das Hohepriestertum Christi, zu entfalten
. Hinzuzufügen wäre, daß auch der Christushymnus aus Phil
2,6ff verarbeitet wird, was erst verständlich macht, daß für den
Hebr „die Auferstehung kein primäres argumentatives Gewicht
hat" (8). Der Gedanke der Erniedrigung des Sohnes (2,7.9) und
der Solidarisicrung mit den Brüdern (2,11 ff), sogar der seines
Gehorsams bis zum Tode, der eigentlichen Voraussetzung seiner
Erhöhung (5,7f; 1,3; 7,26), ist ebenfalls diesem Hymnus
entnommen. Übrigens spricht dessen Benutzung, da er vorpau-
linisch ist, für die von Str. - entgegen anderen Stellungnahmen -
bevorzugte frühe Abfassungszeit. Man kann Str. auch darin folgen
, daß er den „allein erwägenswerten" Alexandriner Apollos
(Apg. 19,1) als Vf. des Schreibens angibt. Einige Notizen aus
dem 1 Kor (3,4ff; 16,12) stützen diese Annahme (vgl. auch
Hebr 13,23); beweisen läßt sie sich nicht. Fest steht bloß, daß
der Vf. des Hebr das beste, der attischen Kunstprosa nahestehende
Griechisch des NT schreibt (Str. 17), sich also innerhalb
der hellenistischen Welt eine gediegene Bildung hat aneignen
können. Aber weder mit der Beurteilung des Schreibens als
„durchdachtes Kunstwerk" noch mit dem Hinweis auf seine Gedankenwelt
ist der Beweis erbracht, daß es „in äußerste Nähe"
zum Schrifttum und zur Ideenwelt Philos von Alexandria gehört
(so Str. passim). Andere Fachgelehrte bestreiten es heftig.
Schenke/Fischer, (Einl. 2681") betonen sogar, daß „eine unüberbrückbare
Kluft den Hebr von Philo trennt". Das Problem eingebrachter
Gegenvorschläge (Gnosis, apokalyptische Gnosis)
mag hier ausgeklammert bleiben.

Andererseits findet es der Rez. angebracht, den Zusammenhang
zwischen Paulus und Hebr hervorzuheben. Str. übt hier
Zurückhaltung, heißt es doch S. 12 nur: „vielleicht", und ist
eher geneigt, Differenzen zu konstatieren, etwa eine unterschiedliche
Stellung zum Gesetz (vgl. aber Hebr 7,18 mit Rom
8,3!), das Zurücktreten des „in Christo" und der Rechtfertigimg
(vgl. aber Hebr 3,6, 11,7!) und nicht zuletzt die „völlig andere
Betrachtungsweise" beim Glaubensbegriff (140). Aber gerade
hinsichtlich des Glaubensbegrifls erweist sich der Vf. des Hebr