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Ausgabe:

1993

Spalte:

229-230

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Teufelskinder oder Heilsbringer - die Juden im Johannes-Evangelium 1993

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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229

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 3

230

Der zweite Teil wendet sich den „Wurzeln der Person" zu
(205-433) Unter dem Oberbegriff der „Origins" werden Name,
Geburt und Familie erörtert. Der historische Geburtsort ist
wahrscheinlich Nazareth und nicht Bethlehem. Die davidische
Herkunft kann dagegen als historisch gelten. Die von Mt und Lk
schon vorgefundene Tradition von der jungfräulichen Empfängnis
vermag der Historiker weder hinsichtlich ihres Alters noch
ihres Ursprungs aufzuklären. - Die sog. „verborgenen Jahre"
zwischen Geburt und öffentlichem Auftreten Jesu geben M. Gelegenheit
, reiches Material zu Sprache, Erziehung, Ausbildung,
sozialem Status, zu Familie, Ehe- und Laien-Status Jesu auszubreiten
. Die Brüder und Schwestern Jesu haben als wirkliche
Geschwister zu gelten. Mit seiner Ehelosigkeit steht Jesus nicht
allein in seiner Umwelt (Essener!). Als frommer galiläischer
Laie aus dem unbedeutenden Nazareth ist er für die Autoritäten
seiner Zeit eine marginale Erscheinung. - Das Schlußkapitel
behandelt die Chronologie des Lebens Jesu. Jesus wurde wenige
Jahre vor dem Tod Herodes d. Gr. geboren. Der Beginn seines
öffentlichen Wirkens fällt wahrscheinlich in das Jahr 28, das
Ende spätestens in das Jahr 33. Joh 8,57 und 2,20 erlauben keine
Präzisierung. Für die Passionschronologie verdient die jo-
hanneische Darstellung den Vorzug, umsomehr, als das Verständnis
des letzten Mahles Jesu als Passahmahl (Mk 14,12-16)
nicht der ältesten Traditionsstufe angehört. Jesus hält mit seinem
innersten Jüngerkreis ein feierliches Abschiedsmahl. Für
das Todesdatum kommt wahrscheinlich der 7. April des Jahres
30 in Frage, so daß Jesu öffentliches Wirken zwei Jahre plus
einen oder zwei Monate umfaßt. Sein Leben endet etwa im Alter
von 36 Jahren. - Zwei Landkarten, ein Stammbaum der He-
rodes-Familie, eine Zeittafel von Augustus bis Verspasian und
verschiedene Indices runden das Ganze ab.

Ein Gesamturteil wird erst möglich sein, wenn der zweite
Band vorliegt, der Jesu öffentliches Wirken nach seinem Inhalt
behandeln wird. An ihm muß sich zeigen, ob eine rein historische
Jesus-Darstellung, ohne weitergehende Interpretation, tatsächlich
sinnvoll und möglich ist. Vorerst drängt sich der
Eindruck auf, daß solche Beschränkung sehr überlegt im Dienst
der katholischen Glaubenslehre steht. Mit anderen Worten: man
wird abwarten müssen, wie teuer der angestrebte Consensus
erkauft ist.

Greifswald Günter Haufe

Neuhaus, Dietrich |Hg.]: Teufelskinder oder Heilsbringer -
die Juden im Johannes-Evangelium. Frankfurt/M.: Haag +
Herchen 1990. VIII, 182 S. 8» = Arnoldshainer Texte, 64.
ISBN 3-89228-492-X.

Es gibt theologische, zumal exegetische Themen, die lange
Zeit nur von akademischem Interesse waren, dann aber dank
eines jähen Szenenwechsels der allgemeinen Aufmerksamkeit
sicher sein können. Als Wilhelm Lütgen 1914 seinen Beitrag
über die Juden im Johannesevangelium schrieb, mochte er nur
auf die Fachexegeten als Leser rechnen. 1989 kann eine für die
Öffentlichkeit bestimmte Akademietagung über das Johannesevangelium
im christlich-jüdischen Dialog, deren Vorträge der
anzuzeigende Berichtsband wiedergibt, diesen Gegenstand in
den Mittelpunkt rücken. In den Jahrzehnten zuvor war die
christliche Selbstkritik (nicht ohne kräftigen Rückenwind des
von jenseits des Atlantiks herüberwehenden Zeitgeistes) über
die Aufdeckung vielfältiger Formen des Antisemitismus in der
Kirchengeschichte bis zur Hinterfragung des Neuen Testaments
selbst vorgestoßen. Seit dem gleichfalls aus einer Akademietagung
hervorgegangenen Sammelband von 1969 war „Antiju-
daismus im Neuen Testament" ein Thema, das Johannesevangelium
zeigte sich bald als Schwerpunkt.

Angesichts der Brisanz der Sache erwies sich eine gleichsam
prismatische Brechung als sinnvoll. So kamen bei der Arnoldshainer
Tagung ein jüdischer Soziologe, drei Neutestamentier
verschiedener Richtung und zwei Praktiker (diese vor allem mit
Predigtbeispielen) zu Wort. Dem Vertreter des Judentums Micha
Brumlik war die Rolle des Anklägers zugedacht. Sowohl
mit sozialwissenschaftlichen Begriffen wie mit religionsgeschichtlichen
Schemata arbeitend sieht er das Evangelium bestimmt
von einem gnostisch-dualistischen Weltbild, das „sich
unter Bedingungen sozialer Isolation zu einem paranoiden
Feindbild verfestigt" (14); mit dem Judentum vertraut, aber antijüdisch
: „Johannes, das judenfeindliche Evangelium" (6-21).
Den weiteren Referenten mag das eher als Kommunikationsverweigerung
denn als Diskussionsangebot erschienen sein. Jedenfalls
bewegten sich ihre Beiträge ohne Bezugnahme auf den Eröffnungsvortrag
in ganz andere Richtung.

Klaus Wengst, der über die „Darstellung der Juden im Johannesevangelium
als Reflex jüdisch-judenchristlicher Kontroverse
" (22-38) sprach, faßte die Thesen seines Buches Bedrängte
Gemeinde und verherrlichter Christus (vgl. ThLZ 107,1982,
902f.) zusammen: Das Evangelium erfährt das Judentum seiner
Zeit (nach 70) als pharisäisch bestimmtes Judentum mit scharf
antihäretischer Ausprägung und projiziert es in seine Darstellung
der Geschichte Jesu zurück. Eine Art Anwendungsfall
stellt die angefügte exegetische Skizze zu Joh 8,12-59 dar.

Hartwig Thyen, einst Rudolf Bultmann eng verbunden, erteilt
in seinem Vortrag „Das Johannes-Evangelium als literarisches
Werk" (112-132) sowohl der historischen Fragestellung als
auch der Literarkritik eine entschiedene Absage. Er begreift das
Evangelium als unauflösliche Einheit (einschließlich cap 21),
die es mit literaturwissenschaftlichen Methoden als „offenes
Kunstwerk" vom Genre der dramatischen Historie zu erfassen
gilt.

Markus Barth macht in seinem Beitrag „Die Juden im Johannes
-Evangelium" (39-94), der - sieht man auf den Umfang - als
Hauptreferat gedacht war, seinem Ruf als Außenseiter innerhalb
der neutestamentlichen Zunft alle Ehre. Nach ihm ist Johannes
das älteste Evangelium, zwischen 45-65 in Palästina entstanden,
nicht allein als Geschichtsbericht glaubwürdig, sondern auch in
der Redenüberlieferung den authentischen Worten Jesu näher
als die Synoptiker. Weiterführend ist am ehesten der Gedanke,
daß im Sprachgebrauch des Evangeliums zwischen Juden und
Juden zu unterscheiden ist wie analog zwischen Welt und Welt
(66).

Rückschauend zeigt sich, daß im Disput der Neutestamentier
untereinander der Konsens nicht minder schwer zu erreichen ist
als im Dialog mit dem jüdischen Partner.

Halle/Saale Wolfgang Wiefel

Panier, Louis: La naissance du fils de dieu. Semiotique et
theologie discursive Lecture de Luc 1-2. Paris: Cerf 1991.
385 S. 8« = Cogitatio Fidei. Kart. fFr 196.-.

Die Doktorarbeit, die im Jahre 1990 der theologischen Fakultät
von Lyon vorgelegt wurde, erschien schon 1991 in der wichtigen
französischen Reihe Cogitatio fidei. Wie der Untertitel anzeigt
, handelt es sich um eine „Lektüre" von Lk 1-2 mit Hilfe
von semiotischer Theorie und theologischem Diskurs.

Das Werk ist in drei Hauptteile gegliedert. Im ersten Teil,
»Une ecriture ä lire«, werden vier Stellen ausgewählt, um die
Funktionen des Schreibens und des Lesens des Neuen Testaments
zu erläutern. Der Prolog des Lukasevangeliums offenbart
ein Zusammenspiel zwischen den vielen Erzählern, den Augenzeugen
und Dienern des Wortes, sowie dem ..Ich", der dem
Leser sein Evangelium vorträgt. Der als „Du" angeredete Theo-