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Ausgabe:

1993

Spalte:

221-223

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Jewish civilization in the Hellenistic-Roman period 1993

Rezensent:

Siegert, Folker

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Theologische Literaturzeitung I 18. Jahrgang 1993 Nr. 3

222

Judaica

Talmon, Shemaryahu [Ed.): Jewish Civilization in the Helle-
nistic Roman Period. Sheffield: JSOT Press 1991. 269 S. 8°
= Journal for the Study of the Pseudepigrapha, Suppl. Series
10. Lw. £30.-.

Dieser Sammelband ist aus einem Jerusalemer Workshop on
teaching Jewish civilization von 1986 und einem weiteren über
Academic teaching of Qumran scrolls von 1987 hervorgegangen
, unter Einschluß einiger bereits erschienener Artikel. Er
wird seinem Titel nicht ganz gerecht; denn de facto ist nur von
judäischer Zivilisation und Kultur die Rede. Jenes andere Zentrum
jüdischer Kultur, das in Alexandrien bestand, wird nur in
einem der Beiträge beiläufig erwähnt, die übrige Diaspora vergessen
. Die hellenistische Kultur der römischen Zeit kommt fast
nur unter dem Blickwinkel ihrer Abwehr vor, womit der Band
nicht beanspruchen kann, ein zutreffendes Bild der Epoche zu
zeichnen.

Er ist aber umso wertvoller als Forschungsbericht über die
Qumran-Funde, entstanden, kurz bevor die Ankündigung gleich
dreier Gesamtausgaben die letzten Dossiers mit Verschlußsachen
geöffnet hat. Alle Beiträge bemühen sich mehr oder weniger
um Anreicherung und Korrektur unseres Bildes von der Zeit
zwischen dem Danielbuch und der Katastrophe des Jahres 70,
ausgehend von den neu verfügbaren Quellen.

Man liest den Band am besten von hinten nach vorne und vermeidet
so die Ermüdung durch einige eher schwache Beiträge.
Sh. Talmons Forschungsbericht Between the Bihle and the Mish-
luüi: Qumran from within (214-257), in manchem durch den
Band selbst überholt, brilliert in der Darstellung des Selbstverständnisses
der Qumran-Gemeinde(n) auf 227-257: Sie lebten
noch in biblischen Zeiten; unter Ignorierung der (bekanntermaßen
dürren) Jahre nach dem Babylonischen Exil betrachteten
sie sich als die eigentlichen Rückkehrer aus Babylonien. Sie
schrieben noch heilige Schriften und dichteten Psalmen unter
Verwendung und Abänderung der bestehenden. Nur umständehalber
befanden sie sich „in Damaskus". - Hier ist der Beitrag
von H. Stegemann aufschlußreich: The 'Teacher of Righteous-
nesi' and Jesus: Two types of religious leadership in Judaism at
the turn of the era (196-213). Ausgehend von der These, daß der
„Lehrer der Gerechtigkeit" in den Hodajoth und in dem ha-
lachischen Brief 4QMMT selber spricht, entwickelt St. ein kohärentes
Bild von Entstehung und Entwicklung der Qumrange-
meinde als Anhängerschaft eines gewaltsam aus dem Amt entlernten
, jedoch nicht auf dieses verzichtenden Hohenpriesters.
Seine Ansprüche auf Gefolgschaft, womit er die bereits bestehende
Gruppe der „Hasidäer" (.Frommen') spaltete, kommen
aus diesem Amt; seine Gegnerschaft gegen den hasmonäischen
(und nicht, wie er, zadokitischen) Hohenpriester Jonathan, der
ihn um 152 ersetzen durfte, und die mit ihm und seinen Nachfolgern
loyal gebliebenen sonstigen Zadokiten (.Sadduzäer')
und Pharisäer erklärt die polemischen Töne, ja das apokalyptische
Kolorit, das später zurücktritt, je weiter die Gemeinde
(nach St. sind es die bei Philon, Josephus und Plinius d. Ä. genannten
.Essener') ihren Gründer überlebt und je mehr sich herausstellt
, daß er nicht der Vorläufer des Messias/der beiden
Messiasse war. Die Kontraste zum historischen Jesus (welches
Bild auch immer man sich von ihm machen mag), sind aufschlußreich
: beim „Lehrer der Gerechtigkeit" handelt sich's auf
jeden Fall um Amtsautori tat.

Auf S. 159-167 präsentiert 7. Milgrom Deviationsfrom Scripten
in the pitrity laws of the Temple Scroti unter der These, daß
diese Schriften den Qumran-Frommcn als sechstes Buch der
Tora gedient habe. Er rindet in IIQT eine Gesetzeshermeneutik
des Angleichens verwandter Bestimmungen, eine homogeniza-

tion of Scripture in maximalistischer (erschwerender) Absicht.

J. Baumgarten gibt unter dem Titel Recent Qumran discoveries
and Halakhah in the Hellenistic-Roman period (147-158) eine
Analyse der erst 1985 zugänglich gewordenen Schrift 4QMMT
(Konventionstitel), auch als „Halachischer Brief" bezeichnet,
womit (so B.) der „Lehrer der Gerechtigkeit" den statt seiner
amtierenden Jerusalemer Hohehnpriester auf die Punkte hinweist,
in denen seine Praxis falsch sei. Endlich erfährt man. worum jener
folgenreiche Streit (u.a.) ging: um den Zeitpunkt, an dem die Gerste
für das Opfer eines Omers Mehl am 2. Tag der Passa-Woche
(Lev 23,1 Off) zu ernten sei. Nach rabbinischer Praxis, die schon
von der LXX gedeckt wird, konnte dieser Tag auf einen Sabbat
fallen, womit in diesem Fall das Sabbatgebot durchbrochen wurde
. Der Vf. des Briefes versucht nun, einen Sonnenkalender von
stets 364 Tagen durchzusetzen, wo alle Feste immer am selben
Wochentag beginnen und solche Überschneidungen ausgeschlossen
sind. Auf einmal erklärt sich der Nachdruck, mit dem in der
Mischna (Menachoth 10,3) jenes ausnahmsweise Ernten am Sabbat
nicht nur gegen die „Boethosäer") behauptet, sondern auch
noch mit zeremoniellem Pomp und Nachdruck versehen wird. B.
zeigt sich sehr zufrieden, daß bisherige „historische" Kritik, angefangen
von A. Geiger über J. Wellhausen bis J. Neusner, nunmehr
falsifiziert wird: die fraglichen Auseinandersetzungen haben tatsächlich
stattgefunden, wenn auch nicht so schematisch einfach,
wie sie berichtet werden.

Hier begegnet uns eine interessante Ähnlichkeit zwischen den
Qumran-Frommen und den - mit ihr ursprungsverwandten -
Sadduzäern. Beide erkannten die „Mündliche Tora" der Pharisäer
nicht an - die Sadduzäer, indem sie sie ersatzlos ablehnten
, die Qumran-Leute jedoch, indem sie die schriftliche Tora
weiterschrieben. Auch B. ist der Auffassung, die Tempelrolle -
wie übrigens auch das Jubiläenbuch - seien in Qumran Tora
gewesen (155). Die Pharisäer hingegen, so unterstreicht auch
Talmon, lebten in dem Bewußtsein, die Zeit der Prophetie sei
vorbei. Nur so konnten sie schließlich zu einem rückblickenden
Kanon heiliger Schriften kommen.

Die Qumran-Gemeinde als bessere Sadduzäer: Dies ist auch
das Bild, das L. Schiffman, Qumran and Rabbinic halakhah
zeichnet (138-146). In Qumran gab es keine doppelte Tora, sondern
nur die Eine, schriftliche, aber nicht abgeschlossene. (Die
Tempelrolle gilt Sch. hierbei nicht direkt als Ausdruck dieser
Qumran-Tora, sondern als Randerscheinung, die aber gleichfalls
dem Sadduzäismus nahestehe.) Aus diesem und anderen
Beiträgen des Bandes resultiert, daß man eine starke Kontinuität
zwischen dem ältesten Pharisäismus, Gegner gewisser Qumran-
Polemiken, und dem Rabbinat annehmen kann, ganz entsprechend
der traditionellen Meinung des Rabbinats von sich selber.
Worüber die Qumran-Schriften uns eines besseren belehrt haben
, ist die Vielfalt der Richtungen und Lebensweisen vor 70;
sie geht, wie im Buch öfters betont wird, über das von Josephus
(Vita 10) eingeführte Dreierschema ,Pharisäer - Sadduzäer -
Essener' hinaus. Dementsprechend bleibt auch die Gleichsetzung
Qumran-Gemeinde(n) - Essener nicht unwidersprochen
(Talmon 220). Zur Hechaloth-Mystik, die bisher nur als rabbi-
nisch bekannt war. haben sich in den „Sabbatliedern" von Qumran
{Strugnells Beitrag The Qumran scrolls: A report on work in
progress erwähnt C. Newsoms Erstausgabe von 1985) Vorläufer
gefunden.

Die Ära der Sensationen, die von den Qumran-Funden ausgelöst
worden ist, geht nunmehr zu Ende. „Theologisch" (im Sinne
der christlichen Theologie) sind keine Überraschungen mehr
zu erwarten. Baumgarten zitiert seine eigene Prophetie von 1957:
In the end it may well be that the religious Ion s and practices in
the Qumran documents will be more decisive in determining the
Position ofthe sect within the spectrum of pre-Christian Jewish
movements than any ofits theological and messianic speculations
<I4K).