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Ausgabe:

1993

Spalte:

210-211

Kategorie:

Religionswissenschaft

Titel/Untertitel:

Neu glauben? 1993

Rezensent:

Obst, Helmut

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209

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 3

210

Religionswissenschaft

Balz-Cochois, Helgard: Inanna. Wesensbild und Kult einer
unmütterlichen Göttin. Gütersloh: Mohn 1992. 239 S., 1
Kte 8° = Studien zum Verstehen fremder Religionen, 4. Kart.
DM 78,-. ISBN 3-579-01786-1.

Auf der Suche nach einer weihlichen Gottheit als Identifikationsgestalt
hat die feministische Theologie seit einiger Zeit die
mesopotamische Inanna-Ischtar entdeckt. Dies geschieht häufig
mehr oder weniger emotional ohne Beachtung historischer Zusammenhänge
, so wenn Inanna als Mutter- oder Mondgottheit
verstanden bzw. psychoanalytisch interpretiert wird. Man kann
sich auch des Hindrucks nicht erwehren, daß es manchen Vertreterinnen
der feministischen Theologie dabei wohl weniger
um das Verhältnis Mensch-Gott geht, sondern eher um das
Selbstverständnis des Menschen, also um feministische Anthropologie
.

Aus dem Unbehagen über ein derartiges Vorgehen hat sich
die Vfn. um Analyse und Verständnis der erhaltenen Quellen
bemüht und ihre Ergebnisse und Überlegungen in einer Studie
vorgelegt. Nach einleitenden Bemerkungen und einem ersten
Teil „Tausend Jahre Surner (und Akkad) - Geschichtsüberblick"
geschieh! dies in den Abschnitten „Innin-Inanna-Ischtar - Ur-
sprünge, Wesen und Wandel der großen Göttin Sumers", „Inanna
und Dumuz.i - Der Hirte als todverfallener Liebling der Göttin
und die Heilige Hochzeit der Herrscher von Ur III", „Die
Hetäre: im Schrcckensglanz der Waffen und elitär - Inanna als
Phänotyp; als Daseinserfahrung und Vorbild mit Fragezeichen
lür die Frau von heute". Anmerkungen, Register und Literaturverzeichnis
dienen zur Abrundung.

Die Untersuchung der Überlieferung im zweiten und dritten
Abschnitt ist. obwohl durchaus von eigenständigem Wert, in der
Gesamtkonzeption letztlich Vorspann zum vierten und letzten
Teil, in dem sich die Vfn. mit ihrem eigentlichen Anliegen auseinandersetzt
- der Frage, inwieweit Inanna für die Frau von
heute Vorbild sein kann mit dem Frgebnis. daß sie im Grunde
ungeeignet ist, die gestellten Anforderungen zu erfüllen. Es handelt
sich nicht um eine Ganzheitsgöttin, wie sie von der feministischen
Theologie gesucht wird, doch mit den Aspekten Herrschaft
, Hart vital und Gefährtin - vor allem dem letzteren - darf
sie durchaus Interesse beanspruchen (201). Damit schließt das
Buch. W ieweit es der Vfn gelungen ist, die Fachgelehrten zu
überzeugen, wird sich in Zukunft zeigen.

Das Bemühen um historisch-kritisches Verständnis unterscheidet
die vorliegende Studie von manchen anderen Unternehmungen
. Sie zeigt auch, daß selbst ohne Kenntnis der Quellensprachen
(allerdings mit Fachberatung) diskussionswürdige
Ergebnisse zu erzielen sind, wenn aufbereitete Quellen vorliegen
. Die Vfn hat sich gründlich mit der Thematik auseinandergesetzt
und auch unkonventionelle Lösungen vorgeschlagen,
über die weiter nachzudenken durchaus angebracht ist. Sie
stützt sich vor allem auf die schriftliche Überlieferung, wohingegen
die bildlichen Darstellungen weiblicher Gottheiten des alten
Vorderen Orients weniger Beachtung finden. Wenigstens
einige Bemerkungen zu der bekannten Statue aus Mari hätte
man erwartet.

Allerdings gibt es bestimmte historische Grundthesen, die
sieh durch das Buch ziehen und denen man nicht vorbehaltlos
folgen kann. Dazu gehört der Gegensatz friedliche Sumerer -
kriegerische Semiten mit Annahme einer Friedensperiode in der
Zeit der Entstehung der sumerischen Hochkultur und der frühesten
staatlichen Formen in Vorderasien. Die Tatsache, daß im
damaligen Zentrum Uruk bis heute keine Stadtmauer jener Peri-
°<Je identifiziert werden konnte, dürfte schwerlich als Beleg
ausreichend sein. Da gleichzeitig in Habuba Kabira am oberen

Euphrat in Syrien, einer wohl zu Uruk in Beziehung stehenden
Siedlung, eine sorgfältig errichtete und mit zahlreichen Türmen
versehene Mauer bestand, dürfte die in letzter Zeit verschiedentlich
geäußerte Ansicht, daß auch für Uruk in jener Periode eine
Mauer nicht auszuschließen ist, eine gewisse Wahrscheinlichkeit
haben. Auch eine Gegenüberstellung sumerische Frömmigkeit
- akkadisches Übermenschentum wird der Komplexität der
frühen Geschichte Mesopotamiens nicht gerecht und ist wohl
aus einer gewissen Idealisierung Sumers heraus zu verstehen.
Wenn dagegen für Inannas Gefährten, den „Hirten" Dumuzi,
der Charakter eines Vegetationsgottes negiert und stattdessen
der Inanna-Dumuzi-Zyklus als Dramatisierung des Todesschicksals
verstanden wird, so ist das des Überdenkens wert.

Das Buch ist tlüssig geschrieben und durch rhetorisch-wirksame
Formulierungen aufgelockert. Es zeigt aber auch, daß eine
Gestalt wie Inanna zwar unsere Phantasie beflügeln und uns die
Dimensionen menschlichen Glaubens und Hoffens erschließen
mag, doch heute kaum Gegenstand religiöser Verehrung werden
kann.

Jena/Leipzig Joachim Oelsner

Greive, Wolfgang, u. Raul Niemann |Hg.|: Neu glauben?

Religionsvielfalt und neue religiöse Strömungen als Herausforderung
an das Christentum. Gütersloh: Mohn 1990. 180 S.
80. Kart. DM 29.80.

Seit Erscheinen dieses Sammelbandes hat die Synkretismusdebatte
- nicht zuletzt auch durch die einschneidenden geistigreligiösen
Umbrüche in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion
- weiter an Bedeutung gewonnen. Die Aktualität dieser
Publikation nahm inzwischen zu. nicht aber ab.

Ausgangspunkt der Veröffentlichung ist die Loccumer Akademietagung
(1988) zum Thema „Synkretismus als Herausforderung
für die Volkskirche". Ein wichtiges Anliegen, dem alle
12 Autoren mehr oder weniger verpflichtet scheinen, ist, „den
Begriff des Synkretismus aus seiner Negativität herauszuholen"
(7).

Auch wem dieses Anliegen von vornherein suspekt ist, der
sollte dieses Buch aufmerksam lesen.

Einleitend erörtert Hans-Werner Gensichen „Hinweise der
Religionswissenschaft zum Synkretismus-Problem", die heute
„auf eine allgemein-verbindliche Theorie des Synkretismus zu
verzichten bereit ist" (16).

Mit der Frage, inwiefern und inwieweit Judentum und Christentum
synkretistische Religionen sind, befassen sich Nathan
Peter Levinson und Henning Paulscn. Einen weiten Bogen
„Von der alten Kirche bis zur Kirche in Lateinamerika heute"
spannt der Aufsatz, von Hans-Jürgen Prien, der gerade durch seine
großflächige Anlage unkonventionelle Sichtweisen eröffnet.
Dem Synkretismusproblem, wie es sich „sowohl im Kontext der
religiösen Entwicklungen in den Industrieländern als auch im
Zusammenhang des Aufbruchs zu einem polykulturellen Christentum
in der Dritten Welt" (74) stellt, geht Peter Rottländer
nach.

Ein anschauliches Beispiel für „positiven" Synkretismus am
Beispiel Indiens stellt Gnana Robinson vor. Er spricht von
einem „lebenstützenden Synkretismus", den er vom „lebenzerstörenden
", „negativen Synkretismus" unterscheidet (77). Sein
Modell ist das einer „dialogischen Existenz" (86). „Das Unbehagen
am Absolutheitsanspruch des Christentums", wie es Raul
Niemann in seinem Beitrag artikuliert, fragt das exklusive
Selbstverständnis des Christentums offensiv an. Es weiß um die
..Angst vor einem postmodernen Pantheon", stellt aber gerade
deshalb die „.Gretchenfrage' nach der angemessenen Wertschätzung
anderer Religionen" (94). Sehr bemerkenswert, was