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Ausgabe:

1992

Spalte:

946-948

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Siller, Hermann Pius

Titel/Untertitel:

Handbuch der Religionsdidaktik 1992

Rezensent:

Grethlein, Christian

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 12

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Diese sehr anspruchsvolle und interessante Untersuchung im
Schnittfdd zwischen Jugend- und Religionssoziologie bietet
einen theoretisch reflektierten wie empirisch breit fundierten
Beitrag zu jugendlicher Religiosität und ihren strukturellen Veränderungen
in modernen Gesellschaften. Sie geht aus von neuen
Phänomenen jugendlicher Religiosität in den letzten Jahrzehnten
zwischen Jugendrcligionen und New Age, formuliert als Untersuchungsinteresse
zwei Leitfragen: 1. „welche lebenspraktischen
Funktionen übernehmen die ... Formen der Religiosität in
der gegenwärtigen durchrationalisierten und ,entzauberten'
Welt" (13) - beantworten sie die Frage nach Lebenssinn in produktiver
Weise oder befördern sie eher regressive Weltflucht? 2.
welche biographischen Krisenbewältigungen liegen hinter dem
jeweiligen religiösen Engagement?

Dieses Forschungsinteresse wird mit einer klar gegliederten
Abfolge von Einzelschritten eingelöst. In einer ersten Serie von
Kapiteln A-E (17-77) wird ein gesellschaftstheoretischer, reli-
gionstheoretischer und jugendsoziologischer Rahmen abgesteckt
. Er basiert im Kern auf M. Webers Analyse der Entwicklung
von Religion und Gesellschaft hin zur Ausbildung von
.Erlösungsrcligionen' als motivationale Basis Für autonome Gestaltung
der Lebenspraxis. Darauf werden sowohl ein knapper re-
ligionsgcschichtlicher Durchgang von archaischen hin zu jüdisch
-christlichen Glaubensformen wie auch sozialisations-
theoretische Überlegungen zur Struktur der Adoleszenz in der
Spannung von Individuicrung und Einfädelung in die Gesellschaft
bezogen.

Der folgende ausführliche empirische Teil bietet in den Kapiteln
F-K (78-287) 4 eingehende Fallanalysen. In sehr differenzierter
Weise werden umfangreiche Interviews ausgewertet. Zur
Bedeutung eher traditioneller und eher moderner Religiosität in
der Adolcszcnzkrise sind folgende Jugendliche bzw. junge Erwachsene
ausgesucht worden: 1. eine pietistische Jugendgruppe
in einer ländlichen Lebcnswelt. 2. Leitereiner katholischen Jugendgruppe
in einer kleinen Kreisstadt, 3. Mitglieder der ,Vereinigungskirche
' des Koreaners San Myung Mun und 4. zwei Anhänger
der Bewegung des Bhagwan Shre Rajneesh am Beispiel
des Zentrums für natürliche Geburt und Meditation.

In einer Schlußauswertung L (288-303) wird der Zusammenhang
der Befunde mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen
dargestellt. Ein Anhang informiert in knapper Form über U.
Övcrmanns Theorie und Methodologie der .objektiven Hermeneutik
', die als Instrument zur Analyse der Interviews herangezogen
wurde.

Für den Autor ergibt sich als Resultat seiner Untersuchung,
verkürzt gesprochen, daß in den alternativen neuen religiösen
Gruppen nicht nur exotische Randphänomene, sondern ein
„Zeitgeist- und generationsspezifische(r) Strukturtyp" (289)
sichtbar wird. Während Jugendliche aus traditioneller Religiosität
eher Hilfestellung zur Individuicrung und produktiven Bewältigung
der Lebenspraxis finden, fördern untersuchte Formen
moderner Religiosität tendenziell regressive Lösungsversuche
für sozialisatorische Grundprobleme im Konflikt zwischen Entscheidungszwang
und Begründungspraxis. Kennzeichnend sind
u. a. ein „zyklisch-magisches Weltbild", die Vereinnahmung des
Subjekts durch überbewertete Wissenschaft sowie der Rückzug
in kleine symbiotische Gruppen. „Religiöse Inhalte werden ausschließlich
zur Selbst- und zur Identitätsfindung benutzt, ohne
daß diese noch um ihrer selbst willen verwirklicht werden" (294)
Religionen setzen kein soziales Engagement mehr frei, sondern
bieten „den Subjekten unverbindliche .Trimm-Dich-Angebote',
ähnlich den Konsumgütern der Kulturindustrie, zur Realisierung
und Vervollständigung ihres Weltbildes und der instrumen-
tellcn Gestaltung ihrer Identität" (296). Diese Erscheinungen stehen
allerdings in Relation zu Umstrukturierungsprozessen
spezifischer moderner Alltagskultur („Halbbildung". „Selbst-

therapeutisierung" und „Postadoleszenz als Endstation eines Lebenslaufes
").

Gerade bei grundsätzlichem Einverständnis mit diesem Typ
empirischer Religionsforschung und bei dem Respekt vor einer
sehr mühevollen Arbeit dürfte an der Diskussion kritischer Fragen
gelegen sein. Ich greife einige heraus:

1. Verfährt die religionsgeschichtliche Analyse nicht zuweilen
arg holzschnittartig und rekurriert etwas zu undifferenziert auf
„das archaische" („negative") bzw. „das christliche" („positive")
Muster von Lebenspraxis? Wird dabei das Webersche Modell der
Entwicklung von Gesellschaften (und ihrer Religionen) nicht unkritisch
absolut gesetzt? Die Geltung einer universalen Entwicklung
mit einer eindeutigen Logik der Rationalisierung wird stets
unterstellt, ihre Reichweite selbst wird aber, ungeachtet konstatierter
- und in anderen Theorien diskutierter - Krisen der
modernen Gesellschaft, nicht hinterfragt. Auch das von Weber
übernommene Autonomiekonzept als solches müßte kritisch beleuchtet
werden, etwa im Lichte der (auch empirisch abgesicherten
) Einsprüche religionswissenschaftlicher, feministischer und
ethnopsychoanalytischer Theorien.

2. Folgen alle empirischen Falluntersuchungen derÖvermann-
schen Methode objektiver Hermeneutik? Wird nicht in den Fällen
3 und 4 explizit und implizit mit psychologischen, genauer
mit psychoanalytischen Schlüsselbegriffen operiert - und zwar
mit Gewinn für die Interpretation -, ohne daß dies als Grenzüberschreitung
der angesagten Methode kenntlich gemacht ist?
Eine sachgerechte Anwendung jener psychologischen Methode
auf die pietistische Gruppe müßte die Analyse des attestierten
„Individuierungspotentials" aber vermutlich relativieren, indem
auch aufzwanghafte Persönlichkeitsanteile zu verweisen wäre.

3. Unterliegt dem gesamten Theorierahmen nicht eine implizite
ebenfalls absolut gesetzte Normaltheologie und -Psychologie
lutherischer Prägung, nämlich die Gesinnungsreligion der im
Gewissen zu Gott unmittelbaren, autonomen Person als höchste
und unüberbietbare Form der Religiosität? Was aber, wenn dieser
Form der Religiosität im Zeichen von „außengeleiteter Lebensweise
" (D. Riesmans) und „Gott in vaterloser Gesellschaft"
(H. Faber) schon längst die soziale Basis entzogen wäre? Dann
müßte über .progressive' bzw. .regressive' Antworten der Religionen
wohl neu nachgedacht werden. Der von Schöll eingeschlagene
Weg stellt einen beeindruckenden Versuch „empirischer
Hermeneutik" dar, dessen Lektüre für Religionspädagogik und
Praktische Theologie gerade im Interesse der weiteren Klärung
solcher und anderer Fragen unbedingt zu empfehlen ist.

Frankfurt/M. Hans-Günter Heimbrock

Silier, Hermann Pius: Handbuch der Religionsdidaktik. Freiburg
-Basel-Wien: Herder 1991. 359 S. gr.8°. Kart. DM 58,-.

Lämmermann, Godwin: Grundriß der Religionsdidaktik. Stuttgart
-Berlin-Köln: Kohlhammer 1991. 235 S. gr.8° = Praktische
Theologie heute, 1. Kart. DM 34,80.

Die beiden 1991 erschienenen Bücher zur Religionsdidaktik
sind Zeugnisse einer konsolidierten Phase des westdeutschen Religionsunterrichts
. Sie berücksichtigen - abgesehen von wenigen
Zwischenbemerkungen bei Lämmermann - noch nicht die mit
den tiefgreifenden politischen Veränderungen in Deutschland
neu aufgebrochene, jetzt aber unter anderen gesellschaftlichen
Bedingungen geführte Diskussion um die Existenzberechtigung
des Fachs an der öffentlichen Schule. Die in den neuen Bundesländern
(und manchen westdeutschen Großstadtbezirken) zentrale
Frage nach der Stellung von Religionsunterricht in Schulen
mit mehrheitlich ungetauften Schüler(inne)n bleibt ebenso wie
sein Verhältnis zum Ethikunterricht unerörtert. Doch für das